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 Katalog  Carl Ludwig Börne
*06. Mai 1786 †12. Feb. 1837


Börne war ein dt. Autor, Lyriker und Publizist.

Börne:
 [Über den Umgang mit Menschen]  [Die Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden]

Prosa: Über den Umgang mit Menschen   (1824)

Vieles kann der Mensch entbehren, nur den Menschen nicht.

Ihm ist die Welt gegeben; was er nicht hat, ist er. Nichts ist herrnlos auf dieser Erde, nicht einmal der Herr; nichts ist frei, nicht einmal die Luft – man kann sie dir nehmen. Gelüstet dir nach einer Blume, nach einer Frucht: der Garten, in dem sie wachsen, ist einem Menschen eigen.

Suchst du Weisheit: der Mensch lehrt sie dich, oder das Buch, das ihm gehört.

Willst du in den Himmel: Petrus hat den Schlüssel. Bist du arm: brauchst du Menschen, die dir geben; bist du reich: brauchst du Menschen, welchen du gibst. Denn ob du einsam auf einer wüsten Insel darbst, ob du einsam im wüsten Herzen genießest, du bist nicht glücklich, wenn du einsam bist. Dein Glück auch in der Einsamkeit zu finden, mußt du heilig sein, und das bist du nicht, wenn du willst; wenige sind auserkoren. Was dir Menschen geben, mußt du bezahlen mit dem, was du hast, oder teurer, mit dem, was du bist.

Auch Freundschaft wird dir nicht unentgeltlich. Jeder hat in seinem Leben einen schönen Kindertag, wo er, wie die ersten Menschen im Paradiese, die Früchte des Feldes, so auch Liebe ohne Sorgen und Mühe findet.

Ist dieser Tag aber vorüber, erwirbst du wie dein Brot so auch Liebe nur im Schweiße deines Angesichtes. Ihr müßt Herzen säen, wollt ihr Herzen ernten. Kann man den Menschen nicht gewinnen, wie verdient man ihn? Kann man ihn gewinnen, welchen Einsatz fordert das Glück für die Hoffnung des Gewinnes? Vieles lernen wir auf niedern und auf hohen Schulen: wie die Sterne am Himmel gehen, welche Tiere in fremden Weltteilen leben, wie die Städte beschaffen, die wir niemals sehen. Aber wie die Menschen beschaffen, die uns umgeben, und welche Wege sie wandeln, das lehrt man uns nicht. Wir lernen unter Früchten die guten wählen, die giftigen meiden; wir lernen Haustiere benutzen und wilde Tiere zähmen; wir lernen dem übermütigen Pferde schmeicheln und das träge anspornen, schwimmen und Brücken über reißende Ströme bauen. Aber wie wir gute Menschen gebrauchen und böse beschwichtigen; wie wir dem stolzen schmeicheln und den stillen antreiben; wie wir Brücken über Tyrannen bauen und durch ihre Leidenschaften schwimmen – das lernen wir nicht.

Ihr sagt: das lehrt die Erfahrung dem Mann! Aber die Schule der Erfahrung wird auf dem Kirchhof gehalten, und der Tod fragt uns nicht, was wir im Leben gelernt; er hat andere Künste und andere Fragen. Doch soll man um den Menschen dienen? Darf man ihn behandeln? Soll man ihn gebrauchen? Darf man ihn täuschen? Soll man ihm schmeicheln? Du kannst noch viele solche Dinge fragen und findest keine Antwort darauf. Und wärest du der klarste Geist und das tugendhafteste Gemüt: du wüßtest nicht, was recht ist. Glücklich auch hier, daß du nicht frei bist; daß dir die Natur, gütig oder hart, Kräfte, Neigungen, Leidenschaften gegeben oder versagt, die dich auf diesen oder jenen Weg führen und dir die Mühe der Wahl ersparen. Bist du aber der Glücklichern einer, Herr deines Willens und Meister, zu tun, was du willst: so wähle. Es gibt zwei Wege, die zu den Menschen führen: du mußt sie lieben oder hassen, hochschätzen oder verachten, sie als göttliche Wesen oder als Sachen ansehen. Es gibt noch einen dritten breiten Weg, auf den die verworrene Menge sich drängt und Staub macht; den meide.

Nicht wenn du liebenswürdig bist, wirst du geliebt; wenn man dich liebt, wirst du liebenswürdig gefunden. Andern gefallen ist leicht; schwer ist nur, daß uns andere gefallen. Hier ist die Kunst, mit Menschen umzugehen! Du sagst: "Ich verabscheue jenen Menschen, er ist schlecht." Nein, er ist krank. Gewährst du nicht dem Kranken deine größte Sorgfalt, und sind nicht die Krankheiten des Herzens die gefährlichsten? "Aber er ist frei, er kann sich bessern." Glaube an deine eigene Freiheit, wenn du den Mut hast, dein Tun zu verantworten; bürde aber keinem Schwachen diese Last auf. "Er ist ein Wüterich, ein Attila." Er ist ein Blitz. Bewunderst du nicht die Güte Gottes noch in der Sündflut und die Weisheit der Natur im niedrigsten Gewürm? "Er ist dumm." Er ist nur ein dummer Mensch, aber das klügste Schaf.

Muß er Wolle tragen? "Er ist ungesellig." Gebrauche ihn zu etwas anderm. Der Weinstock gibt dir seine Früchte, die Eiche ihren Schatten; hast du je Früchte von der Eiche und Schatten vom Weinstocke begehrt? "Er hat weder Geist noch Herz noch Tugend noch irgendeine Gabe, er ist ein Pferd." So reite ihn; doch du irrst. Ein Riese ist nur zweimal so groß als ein Zwerg, und jeder Zwerg ist ein halber Riese. Ein gleiches Maß von Kraft hat die Natur den meisten Menschen gegeben. Hier bildet sie sich zum Geiste, dort zur Tugend, bei einem zur Schönheit, beim andern zur Gesundheit, beim dritten zu dem Sinne aus, der das tief vergrabene Glück wittert. Ohne alle Gabe ist selten einer. "Aber er ist einer dieser Seltenen; er hat weder Geist noch Herz noch Schönheit noch Reichtum." So wird er wenigstens einen guten Magen haben, und es gibt Leute, die es gern hören, wenn man ihre Verdauung lobt.

"Selbst diese ist schlecht." Dann wird er wenig essen und trinken; lobe seine Mäßigkeit, mache aus seiner Not eine Tugend. "Aber ich will, ich darf ihm nicht schmeicheln; schmeicheln ist sündlich." So liebe ihn! Liebe ist eine Schmeichelei, die allen gefällt, Hohen wie Niedern, Kindern wie Erwachsenen, Guten wie Bösen – und sie ist auch Gott gefällig.

Du hassest Könige, wenn sie rasen – rasest du nicht auch, wenn du getrunken? "Aber sie sollen nicht trinken, sie sollen Schmeichlern ihr Ohr nicht geben!" Aber sie sind im Keller geboren, Wein war ihre Ammenmilch, und man ist nur Herr, sich den ersten Becher zu versagen, nicht den zweiten. Du Liberaler hassest den Ultra – was hat er dir getan? "Er unterdrückt die Freiheit des Volks, er will alles für sich allein, er will Vorrechte haben."

Er liegt in den Banden der Gewohnheit, und wenn sein Recht auch nur ein Geschwür wäre, er stürbe daran, wenn man es öffnete. Doch sein Besitz ist edler, tausendjährig, und seine Vorfahren haben sich ihn durch ihre Tugenden erworben. "Doch er selbst hat kein Verdienst!" Bist du besser? Verschwelgst du nicht im Müßiggange den ererbten Reichtum, den dein Vater mit saurer Mühe erworben? Bist du geneigt, mit den Bedürftigen deine Schätze zu teilen? Macht ist wie Reichtum ... Du Ultra verfolgst den Liberalen – warum verfolgst du ihn? "Er will mir meine Rechte rauben!" Er will sie nur mit dir teilen, er ist ein Mensch wie du. "Aber ich war Jahrhunderte im alleinigen Besitz." Desto schlimmer für dich, du bist ihm auch die Zinsen schuldig. "Aber er ist ein Schwärmer, den man schrecken muß, und ich habe die Macht in der Hand, ich kann ihn zernichten." Und wenn du den Körper zerstörst, was gewinnst du? Der Geist bleibt, der Geist hat keinen Hals; er fürchtet dich nicht, er spottet deiner.

Wenn du zehn, wenn du hundert, wenn du tausend fanatische Menschen hinrichten lässt, hast du darum den Fanatismus zerstört? Glaubst du das, dann bist du ein Tor, ein Kind. Schwärmerei ist wie eine Tontine, der Anteil der Verstorbenen fällt den Überlebenden zu, und wenn du die Zahl der Toten vermehrst, hast du nichts getan als den Reichtum des Glaubens aus Vieler in Weniger Herzen gebracht, daß er mächtiger wirke. "Also" – sprecht ihr und ihr – "sollen wir die Hände in den Schoß legen und gelassen mit ansehen, wie uns unsere Feinde bedrohen, uns berauben, in unser Gebiet fallen?"

Nein, das sollt ihr nicht. Verteidige du und du, was du als Recht erkannt – nicht dein Recht, das deiner Brüder; aber nur auf dem Schlachtfelde dürft ihr euch verwunden.

Bist du ein Krieger, fechte; bist du ein Redner, rede gegen deine Feinde. Doch außer der Schlacht, außer dem Buche schone deinen Feind. Entweihe nicht den heiligen Altar der Menschenliebe, der auch den Mörder schützt, und breche nicht die Tage des Gottesfriedens.

"Wohl! Ich will alle Menschen lieben, ich will jedem zu gefallen suchen, dem Klugen wie dem Einfältigen, dem Hohen wie dem Niedern, dem Guten wie dem Bösen. Doch wie gefällt man der Gemeinheit?" Das mußt du einen andern fragen. Hast du einen hohen Geist, bückst du dich vergebens; so dumm ist die Dummheit nie, daß sie nicht die krumme Linie zur geraden umzumessen wüßte. Du mußt klein sein, willst du kleinen Menschen gefallen.

"Doch ich lebe unter Philistern, ich muß unter ihnen leben." Das mußt du nicht; erhänge dich! Doch ist dir dein Leben gar zu lieb, vertrage dich mit ihnen. Willst du wissen, wie unglücklich man ist, wenn man mit den Menschen zerfallen, denke an Rousseau. Sein Staub ist nicht mehr, du kennst sein Leben und seine Werke und weißt, daß er edeln Herzens und hohen Geistes gewesen. Du weißt aber auch, hättest du zu seiner Zeit gelebt, du würdest ihn, wie es alle getan, für einen Bösewicht und für einen Narren gehalten haben. Rousseau war ein Sklave seiner Freiheitsliebe, und wer die Liebe zur Freiheit bis zum Wahnsinn steigert, daß er, um aller geselligen Bande los zu sein, wie ein Vogel in der Luft zu fliegen wagt, den trifft des Ikarus Geschick. Darum suche die Menschen zu erwerben; aber noch einmal, du mußt wählen. Du gewinnst den Menschen nicht, wenn du ihn nicht hochschätzest oder verachtest; und gibt es eine Kunst, in der zu stümpern lächerlich und verdammlich ist, so ist es die, mit Menschen umzugehen. Laß dich von meinem eigenen Beispiele warnen. Nur einmal in meinem Leben – doch es war für einen Freund – suchte ich von einem Großen etwas zu erschmeicheln. Es ist schon lange her, und es geschah noch in jenen guten Tagen, von welchen der Minister auf dem Blocksberg in Goethes 'Faust' gesungen:

Jetzt ist man von dem Rechten allzu weit, Ich lobe mir die guten Alten; Denn freilich, da wir alles galten, Da war die rechte goldne Zeit.

Ich ging zur Audienz. Aus dem, was mich Knigge und Chesterfield gelehrt, wählte ich das Schönste und Beste, band es zierlich zusammen und überreichte den Blumenstrauß. Aber ich war falsch; mein Rücken war krumm, meine Seele war gerad'; ich hatte Zucker auf den Lippen und Salz im Herzen, und der Minister – warf mich zur Türe hinaus.


Prosa:  Die Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden (1823)

Es gibt Menschen und Schriften, welche Anweisung geben, die lateinische, griechische, französische Sprache in drei Tagen, die Buchhalterei sogar in drei Stunden zu erlernen. Wie man aber in drei Tagen ein guter Originalschriftsteller werden könne, wurde noch nicht gezeigt. Und doch ist es so leicht!

Man hat nichts dabei zu lernen, sondern nur vieles zu verlernen; nichts zu erfahren, sondern manches zu vergessen. Wie die Welt jetzt beschaffen, gleichen die Köpfe der Gelehrten und also auch ihre Werke den alten Handschriften, von welchen man die langweiligen Zänkereien eines Kirchenstiefvaters oder die Faseleien eines Mönchs erst abkratzen muß, um zu einem römischen Klassiker zu kommen. Jedem menschlichen Geiste sind schöne Gedanken und, weil mit jedem Menschen die Welt neu geschaffen wird, auch neue angeboren; aber das Leben und der Unterricht schreiben ihre unnützen Sachen darauf und bedecken sie. Man bekommt eine ziemlich richtige Ansicht von dieser Lage der Dinge, wenn man etwa folgendes bedenkt. Ein Tier, eine Frucht, eine Blume erkennen wir in ihrer wahren Gestalt; was sie sind, erscheinen sie uns. Würde aber der von der Natur eines Rebhuhns, eines Himbeerstrauchs, einer Rose eine wahre Anschauung haben, der nur eine Rebhuhnpastete, Himbeersaft und Rosenöl kennen gelernt? So ist es aber mit den Wissenschaften, mit allen Dingen, die wir mit dem Geiste und nicht durch die Sinne auffassen: zubereitet und verwandelt werden sie uns vorgesetzt, und in ihrer rohen und nackten Gestalt lernen wir sie nicht kennen.

Die Meinung ist die Küche, worin alle Wahrheiten abgeschlachtet, gerupft, zerhackt, geschmort und gewürzt werden. An nichts ist größerer Mangel als an Büchern ohne Verstand, an solchen nämlich, die Sachen enthalten und keine Meinungen. Es gibt nur eine kleine Zahl origineller Schriftsteller, und die besten unterscheiden sich von den minder guten viel weniger, als man nach einer oberflächlichen Vergleichung denken mag. Einer schleicht, einer läuft, einer hinkt, einer tanzt, einer fährt, einer reitet zu seinem Ziele; aber Ziel und Weg ist allen gemein. Große und neue Gedanken gewinnt man nur in der Einsamkeit; wie gewinnt man aber die Einsamkeit? Man kann die Menschen fliehen, dann steht man auf dem geräuschvollen Markte der Bücher; man kann die Bücher wegwerfen, wie entfernt man aber aus seinem Kopfe alle die herkömmlichen Kenntnisse, die der Unterricht hineingebracht? In der Kunst, sich unwissend zu machen, ist die wahre Kunst der Selbsterziehung die nötigste, die schönste, aber die am seltensten und am stümperhaftesten geübt wird. Wie es unter einer Million Menschen nur tausend Denker gibt, so gibt es unter tausend Denkern nur einen Selbstdenker. Ein Volk ist jetzt wie ein Brei, dem nur der Topf Einheit gibt; etwas Kerniges und Festes findet sich nur an der Scharre, in der untersten Lage des Volks, und Brei bleibt Brei, und der goldene Löffel, der einen Mundvoll herausschöpft, hat, weil er die Verwandten getrennt, nicht darum auch die Verwandtschaft aufgehoben.

Das wahre wissenschaftliche Streben ist keine Columbische Entdeckungsreise, sondern eine Ulyssesfahrt. Der Mensch wird in der Fremde geboren, leben heißt die Heimat suchen, und denken heißt leben. Aber das Vaterland der Gedanken ist das Herz; an dieser Quelle muß schöpfen, wer frisch trinken will; der Geist ist nur Strom, Tausende sind daran gelagert und trüben das Wasser mit Waschen, mit Baden, mit Flachsrösten und andern schmutzigen Hantierungen. Der Geist ist der Arm, das Herz ist der Wille; Kraft kann man sich anbilden, man kann sie steigern, ausbilden; was nützt aber alle Kraft ohne den Mut, sie zu gebrauchen? Eine schimpfliche Feigheit, zu denken, hält uns alle zurück. Drückender als die Zensur der Regierungen ist die Zensur, welche die öffentliche Meinung über unsere Geisteswerke ausübt. Nicht an Geist, an Charakter mangelt es den meisten Schriftstellern, um besser zu sein, als sie sind.

Aus Eitelkeit entspringt diese Schwäche. Der Künstler, der Schriftsteller will seine Genossen überragen, überholen; aber um einen zu überragen, muß man sich ihm zur Seite stellen; um einen zu überholen, muß man auf gleichem Wege wandern als er. Daher haben die guten Schriftsteller so vieles mit den schlechten gemein: im guten steckt ganz der schlechte; nur ist er etwas mehr; der gute geht ganz den Weg des schlechten, nur geht er etwas weiter. Wer auf die Stimme seines Herzens hört statt auf das Marktgeschrei, und wer den Mut hat, lehrend zu verbreiten, was ihn das Herz gelehrt, der ist immer originell. Aufrichtigkeit ist die Quelle aller Genialität, und die Menschen wären geistreicher, wenn sie sittlicher wären. Und hier folgt die versprochene Nutzanwendung. Nehmt einige Bogen Papier und schreibt drei Tage hintereinander ohne Falsch und Heuchelei alles nieder, was euch durch den Kopf geht. Schreibt, was ihr denkt von euch selbst, von euern Weibern, von dem Türkenkrieg, von Goethe, von Fonks Kriminalprozeß, vom Jüngsten Gerichte, von euern Vorgesetzten – und nach Verlauf der drei Tage werdet ihr vor Verwunderung, was ihr für neue, unerhörte Gedanken gehabt, ganz außer euch kommen. Das ist die Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden!

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(04.05.2003)
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