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Prosa: Naivetät ()
Ein Kranker, der an einer beharrlichen Schlaflosigkeit litt, sah sich genötigt, jede Nacht jemanden um sich zu
haben, mit dem er nicht allein sprechen konnte, sondern der ihm auch in seinem gelähmten Zustande die nötige
Hilfe leistete. So sollte ein junger Mann bei dem Kranken wachen. Statt aber zu wachen, verfiel derselbe in
einen Schlaf, aus dem er nicht zu erwecken. Der Kranke war in dieser Nacht von einem besondern Geist fröhlicher
und zwar musikalischer Laune ergriffen, besann sich auf alle möglichen Kanzonen und Kanzonetten, die er sonst
gesungen, und sang sie mit heller Stimme ab. Endlich, als er in das schlafende Antlitz seines Wächters schaute,
kam ihm dasselbe, sowie die ganze Situation, gar zu drollig vor. Er rief seinen Wächter laut beim Namen und
fragte, als dieser sich aus dem Schlafe rüttelte, ob ihn vielleicht das Singen in seiner Ruhe störe.
"Ach Gott!" erwiderte der junge wachsame Mann ganz naiv und trocken,
indem er sich dehnte, "ach Gott, nicht im mindesten. Singen Sie doch in Gottes Namen,
Herr ***Rat, ich habe einen festen, gesunden Schlaf!"
Und damit schlief er wieder ein, indem der Kranke mit heller Kehle anstimmte:
"Sul margine d'un rio etc."
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