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Prosa: Von dem Fehler, andere nach sich zu beurteilen, ()
Es ist eins von den sonderbarsten Schauspielen, das man sich geben kann, wenn man mit Aufmerksamkeit zusieht, wie fast jeder
den andern nach sich selbst beurteilt. Selbst der Rechtschaffne fällt in den Fehler, von andern unrichtig zu urteilen, indem
er die Tugenden, die er selbst hat, auch bei andern findet. Aber welch ein edler Fehler ist dieser!
Einen gewissen Unterschied, auch wohl Vorzug einiger Verstandeskräfte und der Denkart gesteht man zwar noch bisweilen zu;
allein in Absicht auf die Eigenschaften des Herzens, überredet man sich leicht, keinen über sich zu haben. Wenn man
außerordentlich große Tugenden in der Geschichte findet; so hält man hier den Geschichtschreiber für einen Dichter, und
wenn man sie selbst sieht, so ist man gar zu geneigt, denjenigen, der sie tut, für einen Heuchler zu erklären. Und wenn
dieses von ihm zu behaupten gar zu unwahrscheinlich ist; so sucht man sie durch die Erfindung kleiner Absichten derselben,
herunterzusetzen; oder man würdigt sie nicht mehr, mit dem, was man selbst tun könnte, zu vergleichen, indem man sie aus
einer Enthusiasterei des Herzens herleitet, durch die man sich in einer Welt, wie die unsrige ist, zwar lächerlich, aber
gewiß nicht glücklich mache.
Diese Gewohnheit, den weisen, den tugendhaften, den großen Mann zu sich herunter zu erniedrigen, und ihn mit seinem eignen
kleinen Maße zu messen, hat unter andern auch diese schlimme Folge, daß man sich der Muster der Nachahmung und ihres
vielseitigen Nutzens beraubt. Und diese Muster der Nachahmung sind gleichwohl für die meisten die einzige Reizung, die
ihnen übrig ist, mindstens einige Stufen der Tugend zu ersteigen. Denn die Aussprüche der Pflicht sind ihnen zu kalt. Sie
wirken nicht auf ihr Herz.
Kleon könnte sich vielleicht zu einem gewissen Grade von Tugend erheben; allein wenn er fortfährt, Aristen nach sich selbst
zu beurteilen, so ist gar keine Hoffnung mehr dazu.
Arist verzeiht seinem Feinde auf eine Art, welche die Zuschauer beinah zweifelhaft macht, ob er beleidigt worden sei. Kleon,
dem es unbegreiflich ist, daß man so verzeihen könne, hält Aristen für furchtsam. Denn das ist er selbst.
Arist scheint nicht reicher zu werden, ob er gleich in Umständen ist, in welchen er es werden könnte. Er hatte einigen
Unglücklichen geliehn, von denen er geglaubt hatte, daß sie rechtschaffen wären. Dies weiß Kleon zwar nicht; allein er
spricht doch Aristen die Geschicklichkeit ab, seinen Reichtum zu vermehren, diese so leichte Geschicklichkeit, wenn sie
durch die Gewissenhaftigkeit nicht schwer gemacht wird, und die Kleon gleichwohl nicht hat, ob ihn gleich Schwierigkeiten
von dieser Art überhaupt nicht sehr einschränken.
Arist tut bisweilen etwas für die Nachkommen. Der arme Kleon, wie könnte er Aristen in einem solchen Verdachte haben, er,
der seinen Vater kaum ein wenig liebt, welcher fast sein ganzes Vermögen für ihn hingegeben hat.
Arist läßt sich nicht leicht herunter, Kleinigkeiten dadurch, daß er darüber etwas entschiede, wichtig zu machen. Kleon sieht,
daß Arist schweigt, und hält dafür, daß Arist von seiner Meinung sei.
Homer sagt, daß uns Jupiter die Armen zusende. Man könnte eben dies von Männern sagen, deren Tugenden Beispiele sind. Aber was
macht die kleine Seele eines Kleons aus einem Arist, der ihm zugesandt ist? Eine kleine Seele, wie er selbst hat! Und was ist
ihm dann für eine Reizung übrig, in die Höhe sehn zu lernen, wenn er auf einen Arist nur nicht herabsieht?
Wofern er nur ein wenig auf sich Achtung gäbe, so könnte ihn die Erfahrung sehr leicht überzeugen, wie sehr er in seiner Art
zu beurteilen irre. Wie klein müßte er sich finden, wenn er sich erinnern wollte, daß seine Vermutungen, durch die er die
Handlungen eines Arist bei gewissen wichtigen Veranlassungen vorherzusehen glaubte, so sehr falsch gewesen sind. Und
gleichwohl kann ihn die Erinnerung dieser Erfahrungen von seiner Krankheit, andre nach sich zu beurteilen beinahe allein
heilen.
Wer schon angefangen hätte, seine Zuflucht zu diesem Heilungsmittel zu nehmen, dem würde es sehr nützlich sein, wenn er die
Geschichte in der Absicht läse, daß er sich bei merkwürdigen Begebenheiten vorstellte, was er, wenn er darin verwickelt
gewesen wäre, getan haben würde, und dann zusähe, was große Männer getan haben.
Wer dies oft wiederholt hat, wird die Lächerlichkeit des Kontrastes sehn, die sein voriges Verfahren hatte. Es ist in der
Tat nichts komischer, als einen Kleon zu kennen, und ihn andre beurteilen zu hören. Dies Männchen steht in einem unbekannten
Winkel, und glaubt doch mitten auf dem größten Schauplatze der Welt zu stehn. Wie dem Gelbsüchtigen alle Gegenstände gelb
vorkommen: so scheinen einem Kleon alle Menschen eben so klein als er selbst ist. Sobald er die übrigen seiner Aufmerksamkeit
würdigt; so ist er gleich mit seiner Zauberei fertig, sie in sich selbst zu verwandeln. Es ist ein grotesker Anblick diesen
Pygmäen zu sehen, der, sobald er einen wirklichen Menschen erblickt, den Stab seiner eignen Größe neben ihn stellt, oder
ihn auf seine Waagschale legt. Da ein gewisser hoher Grad des Lachens eine sehr gesunde Erschütterung des Leibes sein soll;
so ist es nicht völlig abzuraten, sich bisweilen einem solchen Pygmäen zu nähern, und sich auf seine Art von ihm
handhaben zu lassen.
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