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  Gedichte: Kurt Tucholsky

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  Gedichte:

  • Augen in der Großstadt
   »Wenn du zur Arbeit gehst
    am frühen Morgen, ...«

  • Arbeitslose
   »Stellung suchen Tag für Tag,
    aber keine kriegen. ...«

  • Arbeiter
   »Saisonarbeiter
    Zehntausend polnische Schnitter, ...«

  • Schöner Herbst
   »Das ist ein sündhaft blauer Tag!
    Die Luft ist klar und kalt und windig, ...«




 Kurt Tucholsky 

Kurt Tucholsky (*1890), der dt. Humanist, Satiriker, Kritiker, Lyriker und Erzähler beschrieb mit scharfer Zunge, sehr treffend und viel Gefühl die Zustände vor allem der Weimarer Republik und des herannahenden Nationalsozialismus.

Er floh 1933 vor den Nazis in das neutrale Schweden und beging dort 1935 Selbstmord.


 'Schöner Herbst' 
  (Tucholsky)



Das ist ein sündhaft blauer Tag!
Die Luft ist klar und kalt und windig,
weiß Gott: ein Vormittag, so find ich,
wie man ihn oft erleben mag.

Das ist ein sündhaft blauer Tag!
Jetzt schlägt das Meer mit voller Welle
gewiß an eben diese Stelle,
wo *dunnemals der Kurgast lag.

Ich hocke in der großen Stadt:
und siehe, durchs Mansardenfenster
*bedräuen mich die Luftgespenster . . .
Und ich bin müde, satt und matt.

Dumpf stöhnend lieg ich auf dem Bett.
Am Strand war es im Herbst viel schöner . . .
Ein Stimmungsbild, zwei *Fölljetöner
und eine alte Operett!

Wenn ich nun aber nicht mehr mag!
Schon kratzt die Feder auf dem Bogen –
das Geld hat manches schon verbogen . . .
Das ist ein sündhaft blauer Tag!





 'Augen in der Großstadt' 
  (Tucholsky)




Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen:
da zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:

Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? vielleicht dein Lebensglück . . .
Vorbei, verweht, nie wieder.

Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang,
die dich vergaßen.
Ein Auge winkt,
die Seele klingt;
du hasts gefunden,
nur für Sekunden . . .

Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider;
Was war das? kein Mensch dreht die Zeit zurück . . .
Vorbei, verweht, nie wieder.

Du mußt auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
Es kann ein Feind sein,
es kann ein Freund sein,
es kann im Kampfe dein
Genosse sein.
Es sieht hinüber
und zieht vorüber . . .

Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider.
Was war das?
Von der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verweht, nie wieder.




 'Arbeit für Arbeitslose' 
  (Tucholsky, März 1926)




Stellung suchen Tag für Tag,
aber keine kriegen.
Wer kein Obdach hat, der mag
auf der Straße liegen.
Sauf doch Wasser für den Durst!
Spuck aufs Brot – dann hast du Wurst!
Und der Wind pfeift durch die Hose –
Arbeitslose.
Arbeitslose.

Schaffen wollen – und nur sehn,
wie Betriebe schließen.
Zähneknirschend müßig gehn ...
Bleib du nicht am Reichstag stehn –!
Geßler läßt was schießen.
Zahl den Fürsten Müßiggang;
Friere nachts auf deiner Bank.
Polizeiarzt. Diagnose:
Arbeitslose.
Arbeitslose.

Wart nur ab.
Es kommt die Zeit,
darfst dich wieder quälen.
Laß dir von Gerissenheit
nur nichts vorerzählen:
Klagen hilft nicht,
plagen hilft nicht,
winden nicht und schinden nicht.
Dies, Prolet, ist deine Pflicht:
Hau sie, dass die Lappen fliegen!
Hau sie bis zum Unterliegen!
Bleib dir treu.
Die Klasse hält
einig gegen eine Welt.
Auf dem Schiff der neuen Zeit,
auf dem Schiff der Zukunft seid
ihr Soldaten! Ihr Matrosen!
Ihr – die grauen Arbeitslosen!




 'Arbeiter' 
  (Tucholsky, 1930)





Saisonarbeiter
Zehntausend polnische Schnitter,
die kommen nach Deutschland hinein;
es wollen die pommerschen Ritter
billig bedienet sein.
Die beschimpfen den deutschen Arbeitsmann,
weil der ihr Fressen nicht essen kann
und nicht wohnt in dem Lumpenquartier.
Und es erläßt der Herr Aristokrat
ein Landarbeiter-Inserat
auf Zeitungspapier,
auf Zeitungspapier,
auf polnischem Zeitungspapier.

Zehntausend Ärmste der Armen,
die treten zur Arbeit an,
bewacht von den Gendarmen,
dass keiner auskneifen kann.
Sie schuften für ein paar Zettel Geld.
Bringt die Arbeitersfrau ein Kind zur Welt,
dann näselt der Kavalier:
»Was sind denn das für Schweinerein?
Wäsche –? Wickeln Sie das doch ein
in Zeitungspapier,
in Zeitungspapier,
in schlesisches Zeitungspapier –!«

So werden Proleten betrogen,
so werden Kinder gemacht.
Sie liegen in Zeitungsbogen
und brüllen die ganze Nacht.
Und könnten sie lesen, so läsen sie gleich
von dem herrlichen, dem Deutschen Reich
und von proletarischer Gier.
Wirf, Arbeiter, aus deinem Haus,
die arbeiterfeindliche Presse heraus!
Und wisch dir deine Augen aus
mit dem Zeitungspapier,
mit dem Zeitungspapier,
mit Hugenbergs Zeitungspapier –!


Theobald Tiger: 'Arbeiter'
Illustrierte Zeitung, 1930, Nr. 34










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