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Heine:
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Heinrich Heine
(*13. Dez. 1797 17. Feb. 1856)
Der dt. Dichter schrieb politische Satiren und Gedichte.
Werke: "Die Harzreise", "Buch der Lieder" ...
Siehe auch: Makaberes zu: H. Heine
Heine:
[Die kleine Harfenistin]
[Der Rabbi von Bacherach]
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Prosa: 'Der Rabbi von Bacherach'
Erstes Kapitel
Unterhalb des Rheingaus, wo die Ufer des Stromes ihre lachende Miene verlieren,
Berg und Felsen, mit ihren abenteuerlichen Burgruinen, sich trotziger gebärden,
und eine wildere, ernstere Herrlichkeit emporsteigt, dort liegt, wie eine
schaurige Sage der Vorzeit, die finstre, uralte Stadt Bacherach. Nicht immer
waren so morsch und verfallen diese Mauern mit ihren zahnlosen Zinnen und
blinden Warttürmchen, in deren Luken der Wind pfeift und die Spatzen nisten; in
diesen armselig häßlichen Lehmgassen, die man durch das zerrissene Tor
erblickt, herrschte nicht immer jene öde Stille, die nur dann und wann
unterbrochen wird von schreienden Kindern, keifenden Weibern und brüllenden
Kühen. Diese Mauern waren einst stolz und stark, und in diesen Gassen bewegte
sich frisches, freies Leben, Macht und Pracht, Lust und Leid, viel Liebe und
viel Haß. Bacherach gehörte einst zu jenen *Munizipien, welche von den Römern
während ihrer Herrschaft am Rhein gegründet worden, und die Einwohner, obgleich
die folgenden Zeiten sehr stürmisch und obgleich sie späterhin unter
Hohenstaufischer, und zuletzt unter Wittelsbacher Oberherrschaft gerieten,
wußten dennoch, nach dem Beispiel andrer rheinischen Städte, ein ziemlich
freies Gemeinwesen zu erhalten. Dieses bestand aus einer Verbindung einzelner
Körperschaften, wovon die der patrizischen Altbürger und die der Zünfte, welche
sich wieder nach ihren verschiedenen Gewerken unterabteilten, beiderseitig nach
der Alleinmacht rangen: so daß sie sämtlich nach außen, zu Schutz und Trutz
gegen den nachbarlichen Raubadel, fest verbunden standen, nach innen aber,
wegen streitender Interessen, in beständiger Spaltung verharrten; und daher
unter ihnen wenig Zusammenleben, viel Mißtrauen, oft sogar tätliche Ausbrüche
der Leidenschaft. Der herrschaftliche Vogt saß auf der hohen Burg Sareck, und
wie sein Falke schoß er herab wenn man ihn rief und auch manchmal ungerufen.
Die Geistlichkeit herrschte im Dunkeln durch die Verdunkelung des Geistes. Eine
am meisten vereinzelte, ohnmächtige und vom Bürgerrechte allmählig verdrängte
Körperschaft war die kleine Judengemeinde, die schon zur Römerzeit in Bacherach
sich niedergelassen und späterhin, während der großen Judenverfolgung, ganze
Scharen flüchtiger Glaubensbrüder in sich aufgenommen hatte.
Die große Judenverfolgung begann mit den Kreuzzügen und wütete am grimmigsten
um die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts, am Ende der großen Pest, die, wie
jedes andre öffentliche Unglück, durch die Juden entstanden sein sollte, indem
man behauptete, sie hätten den Zorn Gottes herabgeflucht und mit Hülfe der
Aussätzigen die Brunnen vergiftet. Der gereizte Pöbel, besonders die Horden der
Flagellanten, halbnackte Männer und Weiber, die zur Buße sich selbst geißelnd
und ein tolles Marienlied singend, die Rheingegend und das übrige
Süddeutschland durchzogen, ermordeten damals viele tausend Juden, oder
marterten sie, oder tauften sie gewaltsam. Eine andre Beschuldigung, die ihnen
schon in früherer Zeit, das ganze Mittelalter hindurch bis Anfang des vorigen
Jahrhunderts, viel Blut und Angst kostete, das war das läppische, in Chroniken
und Legenden bis zum Ekel oft wiederholte Märchen: daß die Juden geweihte
Hostien stählen, die sie mit Messern durchstächen bis das Blut herausfließe,
und daß sie an ihrem Paschafeste Christenkinder schlachteten, um das Blut
derselben bei ihrem nächtlichen Gottesdienste zu gebrauchen. Die Juden,
hinlänglich verhaßt wegen ihres Glaubens, ihres Reichtums, und ihrer
Schuldbücher, waren an jenem Festtage ganz in den Händen ihrer Feinde, die ihr
Verderben nur gar zu leicht bewirken konnten, wenn sie das Gerücht eines
solchen Kindermords verbreiteten, vielleicht gar einen blutigen Kinderleichnam
in das verfemte Haus eines Juden heimlich hineinschwärzten, und dort nächtlich
die betende Judenfamilie überfielen; wo alsdann gemordet, geplündert und
getauft wurde, und große Wunder geschahen durch das vorgefundne tote Kind,
welches die Kirche am Ende gar kanonisierte. Sankt Werner ist ein solcher
Heiliger, und ihm zu Ehren ward zu Oberwesel jene prächtige Abtei gestiftet,
die jetzt am Rhein eine der schönsten Ruinen bildet, und mit der gotischen
Herrlichkeit ihrer langen spitzbögigen Fenster, stolz emporschießender Pfeiler
und Steinschnitzeleien uns so sehr entzückt, wenn wir an einem heitergrünen
Sommertage vorbeifahren und ihren Ursprung nicht kennen. Zu Ehren dieses
Heiligen wurden am Rhein noch drei andre große Kirchen errichtet, und unzählige
Juden getötet oder mißhandelt. Dies geschah im Jahr 1287, und auch zu
Bacherach, wo eine von diesen Sankt-Wernerskirchen gebaut wurde, erging damals
über die Juden viel Drangsal und Elend. Doch zwei Jahrhunderte seitdem blieben
sie verschont von solchen Anfällen der Volkswut, obgleich sie noch immer
hinlänglich angefeindet und bedroht wurden.
Je mehr aber der Haß sie von außen bedrängte, desto inniger und traulicher
wurde das häusliche Zusammenleben, desto tiefer wurzelte die Frömmigkeit und
Gottesfurcht der Juden von Bacherach. Ein Muster gottgefälligen Wandels war der
dortige Rabbiner, genannt Rabbi Abraham, ein noch jugendlicher Mann, der aber
weit und breit wegen seiner Gelahrtheit berühmt war. Er war geboren in dieser
Stadt, und sein Vater, der dort ebenfalls Rabbiner gewesen, hatte ihm in seinem
letzten Willen befohlen, sich demselben Amt zu widmen und Bacherach nie zu
verlassen, es seie denn wegen Lebensgefahr. Dieser Befehl und ein Schrank mit
seltenen Büchern war alles was sein Vater, der bloß in Armut und
Schriftgelahrtheit lebte, ihm hinterließ. Dennoch war Rabbi Abraham ein sehr
reicher Mann; verheuratet mit der einzigen Tochter seines verstorbenen
Vaterbruders, welcher den Juwelenhandel getrieben, erbte er dessen große
Reichtümer. Einige Fuchsbärte in der Gemeinde deuteten darauf hin, als wenn der
Rabbi eben des Geldes wegen seine Frau geheuratet habe. Aber sämtliche Weiber
widersprachen und wußten alte Geschichten zu erzählen: wie der Rabbi, schon vor
seiner Reise nach Spanien, verliebt gewesen in Sara - man hieß sie eigentlich
die schöne Sara - und wie Sara sieben Jahre warten mußte, bis der Rabbi aus
Spanien zurückkehrte, indem er sie gegen den Willen ihres Vaters und selbst
gegen ihre eigne Zustimmung durch den Trauring geheuratet hatte. Jedweder Jude
nämlich kann ein jüdisches Mädchen zu seinem rechtmäßigen Eheweibe machen, wenn
es ihm gelang ihr einen Ring an den Finger zu stecken und dabei die Worte zu
sprechen: "Ich nehme dich zu meinem Weibe nach den Sitten von Moses und
Israel!" Bei der Erwähnung Spaniens pflegten die Fuchsbärte auf eine ganz eigne
Weise zu lächeln; und das geschah wohl wegen eines dunkeln Gerüchts, daß Rabbi
Abraham auf der hohen Schule zu Toledo zwar emsig genug das Studium des
göttlichen Gesetzes getrieben, aber auch christliche Gebräuche nachgeahmt und
freigeistige Denkungsart eingesogen habe, gleich jenen spanischen Juden, die
damals auf einer außerordentlichen Höhe der Bildung standen. Im Innern ihrer
Seele aber glaubten jene Fuchsbärte sehr wenig an der Wahrheit des angedeuteten
Gerüchts. Denn überaus rein, fromm und ernst war seit seiner Rückkehr aus
Spanien die Lebensweise des Rabbi, die kleinlichsten Glaubensgebräuche übte er
mit ängstlicher Gewissenhaftigkeit, alle Montag und Donnerstag pflegte er zu
fasten, nur am Sabbat oder anderen Feiertagen genoß er Fleisch und Wein, sein
Tag verfloß in Gebet und Studium, des Tages erklärte er das göttliche Gesetz im
Kreise der Schüler, die der Ruhm seines Namens nach Bacherach gezogen, und des
Nachts betrachtete er die Sterne des Himmels oder die Augen der schönen Sara.
Kinderlos war die Ehe des Rabbi; dennoch fehlte es nicht um ihn her an Leben
und Bewegung. Der große Saal seines Hauses, welches neben der Synagoge lag,
stand offen zum Gebrauche der ganzen Gemeinde: hier ging man aus und ein ohne
Umstände, verrichtete schleunige Gebete, oder holte Neuigkeiten, oder hielt
Beratung in allgemeiner Not; hier spielten die Kinder am Sabbatmorgen während
in der Synagoge der wöchentliche Abschnitt verlesen wurde; hier versammelte man
sich bei Hochzeit- und Leichenzügen, und zankte sich und versöhnte sich; hier
fand der Frierende einen warmen Ofen und der Hungrige einen gedeckten Tisch.
Außerdem bewegten sich um den Rabbi noch eine Menge Verwandte, Brüder und
Schwestern, mit ihren Weibern und Kindern, so wie auch seine und seiner Frau
gemeinschaftliche Öhme und Muhmen, eine weitläufige Sippschaft, die alle den
Rabbi als Familienhaupt betrachteten, im Hause desselben früh und spät
verkehrten, und an hohen Festtagen sämtlich dort zu speisen pflegten. Solche
gemeinschaftliche Familienmahle im Rabbinerhause fanden ganz besonders statt
bei der jährlichen Feier des Pascha, eines uralten, wunderbaren Festes, das
noch jetzt die Juden in der ganzen Welt, am Vorabend des vierzehnten Tages im
Monat Nissen, zum ewigen Gedächtnisse ihrer Befreiung aus ägyptischer
Knechtschaft, folgendermaßen begehen:
Sobald es Nacht ist, zündet die Hausfrau die Lichter an, spreitet das Tafeltuch
über den Tisch, legt in der Mitte desselben drei von den platten ungesäuerten
Bröten, verdeckt sie mit einer Serviette und stellt auf diesen erhöhten Platz
sechs kleine Schüsseln, worin symbolische Speisen enthalten, nämlich ein Ei,
Lattig, Mairettigwurzel, ein Lammknochen, und eine braune Mischung von Rosinen,
Zimmet und Nüssen. An diesen Tisch setzt sich der Hausvater mit allen
Verwandten und Genossen und liest ihnen vor aus einem abenteuerlichen Buche,
das die Agade heißt, und dessen Inhalt eine seltsame Mischung ist von Sagen der
Vorfahren, Wundergeschichten aus Ägypten, kuriosen Erzählungen, Streitfragen,
Gebeten und Festliedern. Eine große Abendmahlzeit wird in die Mitte dieser
Feier eingeschoben, und sogar während des Vorlesens wird zu bestimmten Zeiten
etwas von den symbolischen Gerichten gekostet, so wie alsdann auch Stückchen
von dem ungesäuerten Brote gegessen und vier Becher roten Weines getrunken
werden. Wehmütig heiter, ernsthaft spielend und märchenhaft geheimnisvoll ist
der Charakter dieser Abendfeier, und der herkömmlich singende Ton, womit die
Agade von dem Hausvater vorgelesen und zuweilen chorartig von den Zuhörern
nachgesprochen wird, klingt so schauervoll innig, so mütterlich einlullend, und
zugleich so hastig aufweckend, daß selbst diejenigen Juden, die längst von dem
Glauben ihrer Väter abgefallen und fremden Freuden und Ehren nachgesagt sind,
im tiefsten Herzen erschüttert werden, wenn ihnen die alten, wohlbekannten
Paschaklänge zufällig ins Ohr dringen.
Im großen Saale seines Hauses saß einst Rabbi Abraham, und mit seinen
Anverwandten, Schülern und übrigen Gästen beging er die Abendfeier des
Paschafestes. Im Saale war alles mehr als gewöhnlich blank; über den Tisch zog
sich die buntgestickte Seidendecke, deren Goldfranzen bis auf die Erde hingen;
traulich schimmerten die Tellerchen mit den symbolischen Speisen, so wie auch
die hohen weingefüllten Becher, woran als Zierat lauter heilige Geschichten von
getriebner Arbeit; die Männer saßen in ihren Schwarzmänteln und schwarzen
Platthüten und weißen Halsbergen; die Frauen, in ihren wunderlich glitzernden
Kleidern von lombardischen Stoffen, trugen um Haupt und Hals ihr Gold- und
Perlengeschmeide; und die silberne Sabbatlampe goß ihr festlichstes Licht über
die andächtig vergnügten Gesichter der Alten und Jungen. Auf den purpurnen
Sammetkissen eines mehr als die übrigen erhabenen Sessels und angelehnt, wie es
der Gebrauch heischt, saß Rabbi Abraham und las und sang die Agade, und der
bunte Chor stimmte ein oder antwortete bei den vorgeschriebenen Stellen. Der
Rabbi trug ebenfalls sein schwarzes Festkleid, seine edelgeformten, etwas
strengen Züge waren milder denn gewöhnlich, die Lippen lächelten hervor aus dem
braunen Barte, als wenn sie viel Holdes erzählen wollten, und in seinen Augen
schwamm es wie selige Erinnerung und Ahnung. Die schöne Sara, die auf einem
ebenfalls erhabenen Sammetsessel an seiner Seite saß, trug als Wirtin nichts
von ihrem Geschmeide, nur weißes Linnen umschloß ihren schlanken Leib und ihr
frommes Antlitz. Dieses Antlitz war rührend schön, wie denn überhaupt die
Schönheit der Jüdinnen von eigentümlich rührender Art ist; das Bewußtsein des
tiefen Elends, der bittern Schmach und der schlimmen Fahrnisse, worinnen ihre
Verwandten und Freunde leben, verbreitet über ihre holden Gesichtszüge eine
gewisse leidende Innigkeit und beobachtende Liebesangst, die unsere Herzen
sonderbar bezaubern. So saß heute die schöne Sara und sah beständig nach den
Augen ihres Mannes; dann und wann schaute sie auch nach der vor ihr liegenden
Agade, dem hübschen, in Gold und Samt gebundenen Pergamentbuche, einem alten
Erbstück mit verjährten Weinflecken aus den Zeiten ihres Großvaters, und worin
so viele keck und bunt gemalten Bilder, die sie schon als kleines Mädchen, am
Pascha-Abend, so gerne betrachtete, und die allerlei biblische Geschichten
darstellten, als da sind: wie Abraham die steinernen Götzen seines Vaters mit
dem Hammer entzweiklopft, wie die Engel zu ihm kommen, wie Moses den Mizri
totschlägt, wie Pharao prächtig auf dem Throne sitzt, wie ihm die Frösche sogar
bei Tisch keine Ruhe lassen, wie er Gott sei Dank versäuft, wie die Kinder
Israel vorsichtig durch das Rote Meer gehen, wie sie offnen Maules, mit ihren
Schafen, Kühen und Ochsen vor dem Berge Sinai stehen, dann auch wie der fromme
König David die Harfe spielt, und endlich wie Jerusalem mit den Türmen und
Zinnen seines Tempels bestrahlt wird vom Glanze der Sonne!
Der zweite Becher war schon eingeschenkt, die Gesichter und Stimmen wurden
immer heller, und der Rabbi, indem er eins der ungesäuerten Osterbröte ergriff
und heiter grüßend emporhielt, las er folgende Worte aus der Agade:
"Siehe! das
ist die Kost, die unsere Väter in Ägypten genossen! Jeglicher, den es hungert,
er komme und genieße! Jeglicher, der da traurig, er komme und teile unsre
Paschafreude! Gegenwärtigen Jahres feiern wir hier das Fest, aber zum kommenden
Jahre im Lande Israels! Gegenwärtigen Jahres feiern wir es noch als Knechte,
aber zum kommenden Jahre als Söhne der Freiheit!"
Da öffnete sich die Saaltüre, und hereintraten zwei große blasse Männer, in
sehr weiten Mänteln gehüllt, und der eine sprach:
"Friede sei mit Euch, wir
sind reisende Glaubensgenossen und wünschen das Paschafest mit Euch zu feiern."
Und der Rabbi antwortete rasch und freundlich:
"Mit Euch sei Frieden, setzt Euch nieder in meiner Nähe."
Die beiden Fremdlinge setzten sich alsbald zu
Tische, und der Rabbi fuhr fort im Vorlesen. Manchmal, während die übrigen noch
im Zuge des Nachsprechens waren, warf er kosende Worte nach seinem Weibe, und
anspielend auf den alten Scherz, daß ein jüdischer Hausvater sich an diesem
Abend für einen König hält, sagte er zu ihr:
"Freue dich, meine Königin!" Sie
aber antwortete, wehmütig lächelnd "es fehlt uns ja der Prinz!"
und damit meinte sie den Sohn des Hauses, der, wie eine Stelle in der Agade es verlangt,
mit vorgeschriebenen Worten seinen Vater um die Bedeutung des Festes befragen
soll. Der Rabbi erwiderte nichts und zeigte bloß mit dem Finger nach einem eben
aufgeschlagenen Bilde in der *Agade, wo überaus anmutig zu schauen war: wie die
drei Engel zu Abraham kommen, um zu verkünden, daß ihm ein Sohn geboren werde
von seiner Gattin Sara, welche unterdessen weiblich pfiffig hinter der Zelttüre
steht um die Unterredung zu belauschen. Dieser leise Wink goß dreifaches Rot
über die Wangen der schönen Frau, sie schlug die Augen nieder, und sah dann
wieder freundlich empor nach ihrem Manne, der singend fortfuhr im Vorlesen der
wunderbaren Geschichte: wie Rabbi Jesua, Rabbi Elieser, Rabbi Asaria, Rabbi
Akiba und Rabbi Tarphen in Bona-Brak angelehnt saßen und sich die ganze Nacht
vom Auszuge der Kinder Israel aus Ägypten unterhielten, bis ihre Schüler kamen
und ihnen zuriefen, es sei Tag und in der Synagoge verlese man schon das große
Morgengebet.
Derweilen nun die schöne Sara andächtig zuhörte, und ihren Mann beständig
ansah, bemerkte sie wie plötzlich sein Antlitz in grausiger Verzerrung
erstarrte, das Blut aus seinen Wangen und Lippen verschwand, und seine Augen
wie Eiszapfen hervorglotzten; - aber fast im selben Augenblicke sah sie, wie
seine Züge wieder die vorige Ruhe und Heiterkeit annahmen, wie seine Lippen und
Wangen sich wieder röteten, seine Augen munter umherkreisten, ja, wie sogar
eine ihm sonst ganz fremde tolle Laune sein ganzes Wesen ergriff. Die schöne
Sara erschrak wie sie noch nie in ihrem Leben erschrocken war, und ein inneres
Grauen stieg kältend in ihr auf, weniger wegen der Zeichen von starrem
Entsetzen, die sie einen Moment lang im Gesichte ihres Mannes erblickt hatte,
als wegen seiner jetzigen Fröhlichkeit, die allmählig in jauchzende
Ausgelassenheit überging. Der Rabbi schob sein Barett spielend von einem Ohre
nach dem andern, zupfte und kräuselte possierlich seine Bartlocken, sang den
Agadetext nach der Weise eines Gassenhauers, und bei der Aufzählung der
*ägyptischen Plagen, wo man mehrmals den Zeigefinger in den vollen Becher
eintunkt und den anhängenden Weintropfen zur Erde wirft, bespritzte der Rabbi
die jüngern Mädchen mit Rotwein, und es gab großes Klagen über verdorbene
Halskrausen, und schallendes Gelächter. Immer unheimlicher ward es der schönen
Sara bei dieser krampfhaft sprudelnden Lustigkeit ihres Mannes, und beklommen
von namenloser Bangigkeit, schaute sie in das summende Gewimmel der
buntbeleuchteten Menschen, die sich behaglich breit hin und her schaukelten, an
den dünnen Paschabröten knoperten, oder Wein schlurften, oder mit einander
schwatzten, oder laut sangen, überaus vergnügt.
Da kam die Zeit wo die Abendmahlzeit gehalten wird, alle standen auf um sich zu
waschen, und die schöne Sara holte das große, silberne, mit getriebenen
Goldfiguren reichverzierte Waschbecken, das sie jedem der Gäste vorhielt,
während ihm Wasser über die Hände gegossen wurde. Als sie auch dem Rabbi diesen
Dienst erwies, blinzelte ihr dieser bedeutsam mit den Augen, und schlich zur
Türe hinaus. Die schöne Sara folgte ihm auf dem Fuße; hastig ergriff der Rabbi
die Hand seines Weibes, eilig zog er sie fort, durch die dunkelen Gassen
Bacherachs, eilig zum Tor hinaus, auf die Landstraße, die den Rhein entlang,
nach Bingen führt.
Es war eine jener Frühlingsnächte, die zwar lau genug und hellgestirnt sind,
aber doch die Seele mit seltsamen Schauern erfüllen. Leichenhaft dufteten die
Blumen; schadenfroh und zugleich selbstbeängstigt zwitscherten die Vögel; der
Mond warf heimtückisch gelbe Streiflichter über den dunkel hinmurmelnden Strom;
die hohen Felsenmassen des Ufers schienen bedrohlich wackelnde Riesenhäupter;
der Turmwächter auf Burg Strahleck blies eine melancholische Weise; und
dazwischen läutete, eifrig gellend, das Sterbeglöckchen der
Sankt-Wernerskirche. Die schöne Sara trug in der rechten Hand das silberne
Waschbecken, ihre linke hielt der Rabbi noch immer gefaßt, und sie fühlte wie
seine Finger eiskalt waren und wie sein Arm zitterte; aber sie folgte
schweigend, vielleicht weil sie von jeher gewohnt, ihrem Manne blindlings und
fragenlos zu gehorchen, vielleicht auch weil ihre Lippen vor innerer Angst
verschlossen waren.
Unterhalb der Burg Sonneck, Lorch gegenüber, ungefähr wo jetzt das Dörfchen
Niederrheinbach liegt, erhebt sich eine Felsenplatte, die bogenartig aber das
Rheinufer hinaushängt. Diese erstieg Rabbi Abraham mit seinem Weibe, schaute
sich um nach allen Seiten, und starrte hinauf nach den Sternen. Zitternd und
von Todesängsten durchfröstelt stand neben ihm die schöne Sara, und betrachtete
sein blasses Gesicht, das der Mond gespenstisch beleuchtete, und worauf es hin
und her zuckte, wie Schmerz, Furcht, Andacht und Wut. Als aber der Rabbi
plötzlich das silberne Waschbecken ihr aus der Hand riß und es schollernd
hinabwarf in den Rhein: da konnte sie das grausenhafte Angstgefühl nicht länger
ertragen, und mit dem Ausrufe: "Schaddai voller Genade!"
stürzte sie zu den
Füßen des Mannes und beschwor ihn das dunkle Rätsel endlich zu enthüllen.
Der Rabbi, des Sprechens ohnmächtig, bewegte mehrmals lautlos die Lippen, und
endlich rief er: "Siehst du den Engel des Todes? Dort unten schwebt er über
Bacherach! Wir aber sind seinem Schwerte entronnen. Gelobt sei der Herr!"
Und
mit einer Stimme, die noch vor innerem Entsetzen bebte, erzählte er: wie er
wohlgemut die Agade hinsingend und angelehnt saß, und zufällig unter den Tisch
schaute, habe er dort, zu seinen Füßen, den blutigen Leichnam eines Kindes
erblickt. "Da merkte ich" - setzte der Rabbi hinzu -
"daß unsre zwei späte
Gäste nicht von der Gemeinde Israels waren, sondern von der Versammlung der
Gottlosen, die sich beraten hatten jenen Leichnam heimlich in unser Haus zu
schaffen, um uns des Kindermordes zu beschuldigen und das Volk aufzureizen uns
zu plündern und zu ermorden. Ich durfte nicht merken lassen, daß ich das Werk
der Finsternis durchschaut; ich hätte dadurch nur mein Verderben beschleunigt,
und nur die List hat uns beide gerettet. Gelobt sei der Herr! Ängstige dich
nicht, schöne Sara; auch unsre Freunde und Verwandte werden gerettet sein. Nur
nach meinem Blute lechzten die Ruchlosen; ich bin ihnen entronnen und sie
begnügen sich mit meinem Silber und Golde. Komm mit mir, schöne Sara, nach
einem anderen Lande, wir wollen das Unglück hinter uns lassen, und damit uns
das Unglück nicht verfolge, habe ich ihm das Letzte meiner Habe, das silberne
Becken, zur Versöhnung hingeworfen. Der Gott unserer Väter wird uns nicht
verlassen. - Komm herab, du bist müde; dort unten steht bei seinem Kahne der
stille Wilhelm; er fährt uns den Rhein hinauf."
Lautlos und wie mit gebrochenen Gliedern war die schöne Sara in die Arme des
Rabbi hingesunken, und langsam trug er sie hinab nach dem Ufer. Hier stand der
stille Wilhelm, ein taubstummer aber bildschöner Knabe, der zum Unterhalt
seiner alten Pflegemutter, einer Nachbarin des Rabbi, den Fischfang trieb und
hier seinen Kahn angelegt hatte. Es war aber als erriete er schon gleich die
Absicht des Rabbi, ja es schien als habe er eben auf ihn gewartet, um seine
geschlossenen Lippen zog sich das lieblichste Mitleid, bedeutungstief ruhten
seine großen blauen Augen auf der schöne Sara, und sorgsam trug er sie in den
Kahn.
Der Blick des stummen Knaben weckte die schöne Sara aus ihrer Betäubung, sie
fühlte auf einmal, daß alles was ihr Mann ihr erzählt, kein bloßer Traum sei,
und Ströme bitterer Tränen ergossen sich über ihre Wangen, die jetzt so weiß
wie ihr Gewand. Da saß sie nun in der Mitte des Kahns, ein weinendes
Marmorbild; neben ihr saßen ihr Mann und der stille Wilhelm, welche emsig
ruderten.
Sei es nun durch den einförmigen Ruderschlag, oder durch das Schaukeln des
Fahrzeugs, oder durch den Duft jener Bergesufer, worauf die Freude wächst,
immer geschieht es, daß auch der Betrübteste seltsam beruhigt wird, wenn er in
der Frühlingsnacht, in einem leichten Kahne, leicht dahin fährt auf dem lieben,
klaren Rheinstrom. Wahrlich, der alte, gutherzige Vater Rhein kann's nicht
leiden, wenn seine Kinder weinen; tränenstillend wiegt er sie auf seinen treuen
Armen, und erzählt ihnen seine schönsten Märchen und verspricht ihnen seine
goldigsten Schätze, vielleicht gar den uralt versunkenen Niblungshort. Auch die
Tränen der schönen Sara flossen immer milder und milder, ihre gewaltigsten
Schmerzen wurden fortgespielt von den flüsternden Wellen, die Nacht verlor ihr
finstres Grauen, und die heimatlichen Berge grüßten wie zum zärtlichsten
Lebewohl. Vor allen aber grüßte traulich ihr Lieblingsberg, der Kedrich, und in
seiner seltsamen Mondbeleuchtung schien es, als stände wieder oben ein Fräulein
mit ängstlich ausgestreckten Armen, als kröchen die flinken Zwerglein wimmelnd
aus ihren Felsenspalten, und als käme ein Reuter den Berg hinaufgesprengt in
vollem Galopp; und der schönen Sara war zu Mute, als sei sie wieder ein kleines
Mädchen und säße wieder auf dem Schoße ihrer Muhme aus Lorch, und diese erzähle
ihr die hübsche Geschichte von dem kecken Reuter, der das arme, von den Zwergen
geraubte Fräulein befreite, und noch andre wahre Geschichten, vom wunderlichen
Wispertale drüben, wo die Vögel ganz vernünftig sprechen, und vom
Pfefferkuchenland, wohin die folgsamen Kinder kommen, und von verwünschten
Prinzessinnen, singenden Bäumen, gläsernen Schlössern, goldenen Brücken,
lachenden Nixen ... Aber zwischen all diesen hübschen Märchen, die klingend und
leuchtend zu leben begannen, hörte die schöne Sara die Stimme ihres Vaters, der
ärgerlich die arme Muhme ausschalt, daß sie dem Kinde so viel Torheiten in den
Kopf schwatze! Alsbald kam's ihr vor, als setzte man sie auf das kleine
Bänkchen, vor dem Sammetsessel ihres Vaters, der mit weicher Hand ihr langes
Haar streichelte, gar vergnügt mit den Augen lachte, und sich behaglich hin-
und herwiegte in seinem weiten, blauseidenen Sabbatschlafrock ... Es mußte wohl
Sabbat sein, denn die geblümte Decke war über den Tisch gespreitet, alle Geräte
im Zimmer leuchteten spiegelblank gescheuert, der weißbärtige Gemeindediener
saß an der Seite des Vaters und kaute Rosinen und sprach Hebräisch, auch der
kleine Abraham kam herein mit einem allmächtig großen Buche, und bat
bescheidentlich seinen Oheim um die Erlaubnis einen Abschnitt der Heiligen
Schrift erklären zu dürfen, damit der Oheim sich selber überzeuge, daß er in
der verflossenen Woche viel gelernt habe und viel Lob und Kuchen verdiene ...
Nun legte der kleine Bursche das Buch auf die breite Armlehne des Sessels, und
erklärte die Geschichte von Jakob und Rahel, wie Jakob seine Stimme erhoben und
laut geweint, als er sein Mühmchen Rahel zuerst erblickte, wie er so traulich
am Brunnen mit ihr gesprochen, wie er sieben Jahr um Rahel dienen mußte, und
wie sie ihm so schnell verflossen, und wie er die Rahel geheuratet und immer
und immer geliebt hat ... Auf einmal erinnerte sich auch die schöne Sara, daß
ihr Vater damals mit lustigem Tone ausrief:
"willst du nicht eben so dein
Mühmchen Sara heuraten?" worauf der kleine Abraham ernsthaft antwortete:
"das will ich, und sie soll sieben Jahr warten."
Dämmernd zogen diese Bilder durch
die Seele der schönen Frau, sie sah, wie sie und ihr kleiner Vetter, der jetzt
so groß und ihr Mann geworden, kindisch mit einander in der Lauberhütte
spielten, wie sie sich dort ergötzten an den bunten Tapeten, Blumen, Spiegeln
und vergoldeten Äpfeln, wie der kleine Abraham immer zärtlich mit ihr koste,
bis er allmählig größer und mürrisch wurde, und endlich ganz groß und ganz
mürrisch ... Und endlich sitzt sie zu Hause allein in ihrer Kammer eines
Samstags Abend, der Mond scheint hell durchs Fenster, und die Tür fliegt auf,
und hastig stürmt herein ihr Vetter Abraham, in Reisekleidern und blaß wie der
Tod, und er greift ihre Hand, steckt einen goldnen Ring an ihren Finger und
spricht feierlich:
"ich nehme dich hiermit zu meinem Weibe, nach den Gesetzen
von Moses und Israel!" "Jetzt aber" - setzt er bebend hinzu -
"jetzt muß ich fort nach Spanien. Lebewohl, sieben Jahr sollst du auf mich warten!"
Und er stürzt fort, und weinend erzählt die schöne Sara das alles ihrem Vater ... Der
tobt und wütet
"schneid ab dein Haar, denn du bist ein verheuratetes Weib!" -
und er will dem Abraham nachreuten um einen Scheidebrief von ihm zu erzwingen;
- aber der ist schon über alle Berge, der Vater kehrt schweigend nach Haus
zurück, und wie die schöne Sara ihm die Reitstiefel ausziehen hilft und
besänftigend äußert, daß der Abraham nach sieben Jahr zurückkehre, da flucht
der Vater:
"Sieben Jahr sollt ihr betteln gehn!" und bald stirbt er.
So zogen der schönen Sara die alten Geschichten durch den Sinn, wie ein
hastiges Schattenspiel; die Bilder vermischten sich auch wunderlich, und
zwischendurch schauten halb bekannte, halb fremde bärtige Gesichter und große
Blumen mit fabelhaft breitem Blattwerk. Es war auch als murmelte der Rhein die
Melodien der Agade, und die Bilder derselben stiegen daraus hervor, lebensgroß
und verzerrt, tolle Bilder: der Erzvater Abraham zerschlägt ängstlich die
Götzengestalten, die sich immer hastig wieder von selbst zusammensetzen; der
Mizri wehrt sich furchtbar gegen den ergrimmten Moses; der Berg Sinai blitzt
und flammt; der König Pharao schwimmt im Roten Meere, mit den Zähnen im Maule
die zackige Goldkrone festhaltend; Frösche mit Menschenantlitz schwimmen
hintendrein, und die Wellen schäumen und brausen, und eine dunkle Riesenhand
taucht drohend daraus hervor.
Das war Hattos Mäuseturm und der Kahn schoß eben durch den Binger Strudel. Die
schöne Sara ward dadurch etwas aus ihren Träumereien gerüttelt, und schaute
nach den Bergen des Ufers, auf deren Spitzen die Schloßlichter flimmerten, und
an deren Fuß die mondbeleuchteten Nachtnebel sich hinzogen. Plötzlich aber
glaubte sie dort ihre Freunde und Verwandte zu sehen, wie sie mit
Leichengesichtern und in weißwallenden Totenhemden schreckenhastig
vorüberliefen, den Rhein entlang ... es ward ihr schwarz vor den Augen, ein
Eisstrom ergoß sich in ihre Seele, und wie im Schlafe hörte sie nur noch, daß
ihr der Rabbi das Nachtgebet vorbetete, langsam ängstlich, wie es bei
todkranken Leuten geschieht, und träumerisch stammelte sie noch die Worte:
"Zehntausend zur Rechten, zehntausend zur Linken; den König zu schützen vor
nächtlichem Grauen ..."
Da verzog sich plötzlich all das eindringende Dunkel und Grausen, der düstre
Vorhang ward vom Himmel fortgerissen, es zeigte sich oben die heilige Stadt
Jerusalem, mit ihren Türmen und Toren; in goldner Pracht leuchtete der Tempel;
auf dem Vorhofe desselben erblickte die schöne Sara ihren Vater, in seinem
gelben Sabbatschlafrock und vergnügt mit den Augen lachend; aus den runden
Tempelfenstern grüßten fröhlich alle ihre Freunde und Verwandte; im
Allerheiligsten kniete der fromme König David, mit Purpurmantel und funkelnder
Krone, und lieblich ertönte sein Gesang und Saitenspiel, - und selig lächelnd
entschlief die schöne Sara.
Zweites Kapitel
Als die schöne Sara die Augen aufschlug, ward sie fast geblendet von den
Strahlen der Sonne. Die hohen Türme einer großen Stadt erhoben sich, und der
stumme Wilhelm stand mit der Hakenstange aufrecht im Kahne und leitete
denselben durch das lustige Gewühl vieler buntbewimpelten Schiffe, deren
Mannschaft entweder müßig hinabschaute auf die Vorbeifahrenden, oder vielhändig
beschäftigt war mit dem Ausladen von Kisten, Ballen und Fässern, die auf
kleineren Fahrzeugen ans Land gebracht wurden; wobei ein betäubender Lärm, das
beständige Hallorufen der Barkenführer, das Geschrei der Kaufleute vom Ufer
her, und das Keifen der Zöllner, die, in ihren roten Röcken mit weißen Stäbchen
und weißen Gesichtern, von Schiff zu Schiff hüpften.
"Ja, schöne Sara" - sagte der Rabbi zu seiner Frau, heiter lächelnd -
"das ist hier die weltberühmte freie Reichs- und Handelsstadt Frankfurt am Main, und das
ist eben der Mainfluß worauf wir jetzt fahren. Da drüben die lachenden Häuser,
umgeben von grünen Hügeln, das ist das Sachsenhausen, woher uns der lahme
Gumpertz, zur Zeit des Lauberhüttenfestes, die schönen Myrrhen holt. Hier
siehst du auch die starke Mainbrücke mit ihren dreizehn Bögen, und gar viel
Volk, Wagen und Pferde, geht sicher darüberhin, und in der Mitte steht das
Häuschen, wovon die Mühmele Täubchen erzählt hat, daß ein getaufter Jude darin
wohnt, der jedem, der ihm eine tote Ratte bringt, sechs Heller auszahlt für
Rechnung der jüdischen Gemeinde, die dem Stadtrate jährlich fünftausend
Rattenschwänze abliefern soll!"
Über diesen Krieg, den die Frankfurter Juden mit den Ratten zu führen haben,
mußte die schöne Sara laut lachen; das klare Sonnenlicht und die neue bunte
Welt, die vor ihr auftauchte, hatte alles Grauen und Entsetzen der vorigen
Nacht aus ihrer Seele verscheucht, und als sie, aus dem landenden Kahne, von
ihrem Manne und dem stummen Wilhelm aufs Ufer gehoben worden, fühlte sie sich
wie durchdrungen von freudiger Sicherheit. Der stumme Wilhelm aber, mit seinen
schönen, tiefblauen Augen, sah ihr lange ins Gesicht, halb schmerzlich, halb
heiter, dann warf er noch einen bedeutenden Blick nach dem Rabbi, sprang zurück
in seinen Kahn, und bald war er damit verschwunden.
"Der stumme Wilhelm hat doch viele Ähnlichkeit mit meinem verstorbenen Bruder"
- bemerkte die schöne Sara.
"Die Engel sehen sich alle ähnlich" - erwiderte
leichthin der Rabbi, und sein Weib bei der Hand ergreifend, führte er sie durch
das Menschengewimmel des Ufers, wo jetzt, weil es die Zeit der Ostermesse, eine
Menge hölzerner Krambuden aufgebaut standen. Als sie, durch das dunkle Maintor,
in die Stadt gelangten, fanden sie nicht minder lärmigen Verkehr. Hier, in
einer engen Straße, erhob sich ein Kaufmannsladen neben dem andern, und die
Häuser, wie überall in Frankfurt, waren ganz besonders zum Handel eingerichtet:
im Erdgeschosse keine Fenster, sondern lauter offne Bogentüren, so daß man tief
hineinschauen und jeder Vorübergehende die ausgestellten Waren deutlich
betrachten konnte. Wie staunte die schöne Sara ob der Masse kostbarer Sachen
und ihrer niegesehenen Pracht! Da standen Venezianer, die allen Luxus des
Morgenlands und Italiens feil boten, und die schöne Sara war wie festgebannt
beim Anblick der aufgeschichteten Putzsachen und Kleinodien, der bunten Mützen
und Mieder, der güldnen Armspangen und Halsbänder, des ganzen Flitterkrams, das
die Frauen sehr gern bewundern und womit sie sich noch lieber schmücken. Die
reichgestickten Samt- und Seidenstoffe schienen mit der schönen Sara sprechen
und ihr allerlei Wunderliches ins Gedächtnis zurückfunkeln zu wollen, und es
war ihr wirklich zu Mute, als wäre sie wieder ein kleines Mädchen und Mühmele
Täubchen habe ihr Versprechen erfüllt, und sie nach der Frankfurter Messe
geführt, und jetzt eben stehe sie vor den hübschen Kleidern, wovon ihr so viel
erzählt worden. Mit heimlicher Freude überlegte sie schon was sie nach
Bacherach mitbringen wolle, welchem von ihren beiden Bäschen, dem kleinen
Blümchen oder dem kleinen Vögelchen, der blauseidne Gürtel am besten gefallen
würde, ob auch die grünen Höschen dem kleinen Gottschalk passen mögen, - doch
plötzlich sagte sie zu sich selber: ach Gott! die sind ja unterdessen
großgewachsen und gestern umgebracht worden! Sie schrak heftig zusammen und die
Bilder der Nacht wollten schon mit all ihrem Entsetzen wieder in ihr
aufsteigen; doch die goldgestickten Kleider blinzelten nach ihr wie mit tausend
Schelmenaugen, und redeten ihr alles Dunkle aus dem Sinn, und wie sie hinaufsah
nach dem Antlitz ihres Mannes, so war dieses unumwölkt, und trug seine
gewöhnliche ernste Milde.
"Mach die Augen zu, schöne Sara" - sagte der Rabbi,
und führte seine Frau weiter durch das Menschengedränge.
Welch ein buntes Treiben! Zumeist waren es Handelsleute, die laut mit einander
feilschten, oder auch mit sich selber sprechend an den Fingern rechneten, oder
auch von einigen hochbepackten Markthelfern, die im kurzen Hundetrapp hinter
ihnen herliefen, ihre Einkäufe nach der Herberge schleppen ließen. Andre
Gesichter ließen merken, daß bloß die Neugier sie herbeigezogen. Am roten
Mantel und der goldnen Halskette erkannte man den breiten Ratsherrn. Das
schwarze, wohlhabend bauschichte Wams verriet den ehrsamen stolzen Altbürger.
Die eiserne Pickelhaube, das gelblederne Wams und die klirrenden Pfundsporen
verkündigten den schweren Reutersknecht. Unterm schwarzen Sammethäubchen, das
in einer Spitze auf der Stirne zusammenlief, barg sich ein rosiges
Mädchengesicht, und die jungen Gesellen, die gleich witternden Jagdhunden
hintendrein sprangen, zeigten sich als vollkommene Stutzer durch ihre
keckbefiederten Barette, ihre klingelnden Schnabelschuhe und ihre seidnen
Kleider von geteilter Farbe, wo die rechte Seite grün, die linke Seite rot,
oder die eine regenbogenartig gestreift, die andre buntscheckig gewürfelt war,
so daß die närrischen Burschen aussahen, als wären sie in der Mitte gespalten.
Von der Menschenströmung fortgezogen, gelangte der Rabbi mit seinem Weibe nach
dem Römer. Dieses ist der große mit hohen Giebelhäusern umgebene Marktplatz der
Stadt, seinen Namen führend von einem ungeheuren Hause das 'Zum Römer' hieß und
vom Magistrate angekauft und zu einem Rathause geweiht wurde. In diesem Gebäude
wählte man Deutschlands Kaiser und vor demselben wurden oft edle Ritterspiele
gehalten. Der König Maximilian, der dergleichen leidenschaftlich liebte, war
damals in Frankfurt anwesend, und Tags zuvor hatte man ihm zu Ehren, vor dem
Römer, ein großes Stechen veranstaltet. An den hölzernen Schranken, die jetzt
von den Zimmerleuten abgebrochen wurden, standen noch viele Müßiggänger und
erzählten sich, wie gestern der Herzog von Braunschweig und der Markgraf von
Brandenburg unter Pauken- und Trompetenschall gegen einander gerannt, wie Herr
Walter der Lump den Bärenritter so gewaltig aus dem Sattel gestoßen, daß die
Lanzensplitter in die Luft flogen, und wie der lange blonde König Max, im
Kreise seines Hofgesindes, auf dem Balkone stand und sich vor Freude die Hände
rieb. Die Decken von goldnen Stoffen lagen noch auf der Lehne des Balkons und
der spitzbögigen Rathausfenster. Auch die übrigen Häuser des Marktplatzes waren
noch festlich geschmückt und mit Wappenschilden verziert, besonders das Haus
Limburg, auf dessen Banner eine Jungfrau gemalt war, die einen Sperber auf der
Hand trägt, während ihr ein Affe einen Spiegel vorhält. Auf dem Balkone dieses
Hauses standen viele Ritter und Damen, in lächelnder Unterhaltung hinabblickend
auf das Volk, das unten in tollen Gruppen und Aufzügen hin und her wogte.
Welche Menge Müßiggänger von jedem Stande und Alter drängte sich hier, um ihre
Schaulust zu befriedigen! Hier wurde gelacht, gegreint, gestohlen, in die
Lenden gekniffen, gejubelt, und zwischendrein schmetterte gellend die Trompete
des Arztes, der im roten Mantel, mit seinem Hanswurst und Affen, auf einem
hohen Gerüste stand, seine eigne Kunstfertigkeit recht eigentlich ausposaunte,
seine Tinkturen und Wundersalben anpries, oder ernsthaft das Uringlas
betrachtete, das ihm irgend ein altes Weib vorhielt, oder sich anschickte einem
armen Bauer den Backzahn auszureißen. Zwei Fechtmeister, in bunten Bändern
einherflatternd, ihre Rappiere schwingend, begegneten sich hier wie zufällig
und stießen mit Scheinzorn auf einander; nach langem Gefechte erklärten sie
sich wechselseitig für unüberwindlich und sammelten einige Pfennige. Mit
Trommler und Pfeifer marschierte jetzt vorbei die neu errichtete Schützengilde.
Hierauf folgte, angeführt von dem Stöcker, der eine rote Fahne trug, ein Rudel
fahrender Fräulein, die aus dem Frauenhause "Zum Esel" von Würzburg herkamen
und nach dem Rosentale hinzogen, wo die hochlöbliche Obrigkeit ihnen für die
Meßzeit ihr Quartier angewiesen. "Mach die Augen zu, schöne Sara!" - sagte der
Rabbi. Denn jene phantastisch und allzu knapp bekleideten Weibsbilder, worunter
einige sehr hübsche, gebärdeten auf die unzüchtigste Weise, entblößtem ihren
weißen, frechen Busen, neckten die Vorübergehenden mit schamlosen Worten,
schwangen ihre langen Wanderstöcke, und indem sie auf letzteren, wie auf
Steckenpferden, die Sankt-Katharinen-Pforte hinabritten, sangen sie mit
gellender Stimme das Hexenlied:
"Wo ist der Bock, das Höllentier?
Wo ist der Bock? Und fehlt der Bock,
So reiten wir, so reiten wir,
So reiten wir auf dem Stock!"
Dieser Singsang, den man noch in der Ferne hören konnte, verlor sich am Ende in
den kirchlich langgezogenen Tönen einer herannahenden Prozession. Das war ein
trauriger Zug von kahlköpfigen und barfüßigen Mönchen, welche brennende
Wachslichter oder Fahnen mit Heilgenbildern, oder auch große silberne Kruzifixe
trugen. An ihrer Spitze gingen rot- und weiß-geröckte Knaben mit dampfenden
Weihrauchkesseln. In der Mitte des Zuges unter einem prächtigen Baldachin, sah
man Geistliche in weißen Chorhemden von kostbaren Spitzen oder in buntseidnen
Stolen, und einer derselben trug in der Hand ein sonnenartig goldnes Gefäß, das
er, bei einer Heiligennische der Marktecke anlangend, hoch emporhob, während er
lateinische Worte halb rief, halb sang ... Zugleich erklingelte ein kleines
Glöckchen und alles Volk ringsum verstummte, fiel auf die Knie und bekreuzte
sich. Der Rabbi aber sprach zu seinem Weibe:
"mach die Augen zu, schöne Sara!"
- und hastig zog er sie von hinnen, nach einem schmalen Nebengäßchen, durch ein
Labyrinth von engen und krummen Straßen, und endlich über den unbewohnten,
wüsten Platz, der das neue Judenquartier von der übrigen Stadt trennte.
Vor jener Zeit wohnten die Juden zwischen dem Dom und dem Mainufer, nämlich von
der Brücke bis zum Lumpenbrunnen und von der Mehlwage bis zu Sankt Bartholomäi.
Aber die katholischen Priester erlangten eine päpstliche Bulle, die den Juden
verwehrte in solcher Nähe der Hauptkirche zu wohnen, und der Magistrat gab
ihnen einen Platz auf dem Wollgraben, wo sie das heutige Judenquartier
erbauten. Dieses war mit starken Mauern versehen, auch mit eisernen Ketten vor
den Toren, um sie gegen Pöbelandrang zu sperren. Denn hier lebten die Juden
ebenfalls in Druck und Angst, und mehr als heut zu Tage in der Erinnerung
früherer Nöten. Im Jahr 1240 hatte das entzügelte Volk ein großes Blutbad unter
ihnen angerichtet, welches man die erste Judenschlacht nannte, und im Jahr
1349, als die Geißler, bei ihrem Durchzuge, die Stadt anzündeten und die Juden
des Brandstiftens anklagten, wurden diese von dem aufgereizten Volke zum
größten Teil ermordet oder sie fanden den Tod in den Flammen ihrer eignen
Häuser, welches man die zweite Judenschlacht nannte. Später bedrohte man die
Juden noch oft mit dergleichen Schlachten, und bei innern Unruhen Frankfurts,
besonders bei einem Streite des Rates mit den Zünften, stand der Christenpöbel
oft im Begriff das Judenquartier zu stürmen. Letzteres hatte zwei Tore, die an
katholischen Feiertagen von außen, an jüdischen Feiertagen von innen
geschlossen wurden, und vor jedem Tor befand sich ein Wachthaus mit
Stadtsoldaten.
Als der Rabbi mit seinem Weibe an das Tor des Judenquartiers gelangte, lagen
die Landsknechte, wie man durch die offnen Fenster sehen konnte, auf der
Pritsche ihrer Wachtstube, und draußen, vor der Türe, im vollen Sonnenschein,
saß der Trommelschläger und phantasierte auf seiner großen Trommel. Das war
eine schwere dicke Gestalt; Wams und Hosen von feuergelbem Tuch, an Armen und
Lenden weit aufgepufft, und als wenn unzählige Menschenzungen daraus
hervorleckten, von oben bis unten besät mit kleinen eingenähten roten
Wülstchen; Brust und Rücken gepanzert mit schwarzen Tuchpolstern, woran die
Trommel hing; auf dem Kopfe eine platte runde schwarze Kappe; das Gesicht eben
so platt und rund, auch orangengelb und mit roten Schwärchen gespickt, und
verzogen zu einem gähnenden Lächeln. So saß der Kerl und trommelte die Melodie
des Liedes, das einst die Geißler bei der Judenschlacht gesungen, und mit
seinem rauhen Biertone gurgelte er die Worte:
"Unsre liebe Fraue,
Die ging im Morgentaue,
Kyrie Eleison!"
"Hans, das ist eine schlechte Melodie" - rief eine Stimme hinter dem
verschlossenen Tore des Judenquartiers -
"Hans, auch ein schlecht Lied, paßt
nicht für die Trommel, paßt gar nicht, und bei Leibe nicht in der Messe und am
Ostermorgen, schlecht Lied, gefährlich Lied, Hans, Hänschen, klein
Trommelhänschen, ich bin ein einzelner Mensch, und wenn du mich lieb hast, wenn
du den Stern lieb hast, den langen Stern, den langen Nasenstern, so hör auf!"
Diese Worte wurden von dem ungesehenen Sprecher, teils angstvoll hastig, teils
aufseufzend langsam hervorgestoßen, in einem Tone worin das ziehend Weiche und
das heiser Harte schroff abwechselte, wie man ihn bei Schwindsüchtigen findet;
Der Trommelschläger blieb unbewegt, und in der vorigen Melodie forttrommelnd
sang er weiter:
"Da kam ein kleiner Junge,
Sein Bart war ihm entsprungen,
Halleluja!"
"Hans" - rief wieder die Stimme des obenerwähnten Sprechers -
"Hans, ich bin
ein einzelner Mensch, und es ist ein gefährlich Lied, und ich hör' es nicht
gern, und ich hab' meine Gründe, und wenn du mich lieb hast, singst du was
anders, und morgen trinken wir ..."
Bei dem Wort 'Trinken' hielt der Hans inne mit seinem Trommeln und Singen, und
biedern Tones sprach er:
"Der Teufel hole die Juden, aber du, lieber
Nasenstern, bist mein Freund, ich beschütz' dich, und wenn wir noch oft
zusammen trinken, werde ich dich auch bekehren. Ich will dein Pate sein, wenn
du getauft wirst, wirst du selig, und wenn du Genie hast und fleißig bei mir
lernst, kannst du sogar noch Trommelschläger werden. Ja, Nasenstern, du kannst
es noch weit bringen, ich will dir den ganzen Katechismus vortrommeln, wenn wir
morgen zusammen trinken - aber jetzt mach mal das Tor auf, da stehen zwei
Fremde und begehren Einlaß."
"Das Tor auf?" - schrie der Nasenstern und die Stimme versagte ihm fast.
"Das geht nicht so schnell, lieber Hans, man kann nicht wissen, man kann gar nicht
wissen, und ich bin ein einzelner Mensch. Der Veitel Rindskopf hat den
Schlüssel und steht jetzt still in der Ecke und brümmelt sein Achtzehn-Gebet;
da darf man sich nicht unterbrechen lassen. Jäkel der Narr ist auch hier, aber
er schlägt jetzt sein Wasser ab. Ich bin ein einzelner Mensch!"
"Der Teufel hole die Juden!" - rief der Trommelhans, und über diesen eignen
Witz laut lachend, trollte er sich nach der Wachtstube und legte sich ebenfalls
auf die Pritsche.
Während nun der Rabbi mit seinem Weibe jetzt ganz allein vor dem großen
verschlossenen Tore stand, erhub sich hinter demselben eine schnurrende,
näselnde, etwas spöttisch gezogene Stimme:
"Sternchen, dröhnle nicht so lange,
nimm die Schlüssel aus Rindsköpfchens Rocktasche, oder nimm deine Nase, und
schließe damit das Tor auf. Die Leute stehen schon lange und warten."
"Die Leute?" - schrie ängstlich die Stimme des Mannes, den man den Nasenstern
nannte -
"ich glaubte es wäre nur einer, und ich bitte dich, Narr, lieber Jäkel
Narr, guck mal heraus wer da ist?"
Da öffnete sich im Tore ein kleines, wohlvergittertes Fensterlein, und zum
Vorschein kam eine gelbe, zweihörnige Mütze und darunter das drollig
verschnörkelte Lustigmachergesicht Jäkels des Narren. In demselben Augenblicke
schloß sich wieder die Fensterluke und ärgerlich schnarrte es:
"Mach auf, mach auf, draußen ist nur ein Mann und ein Weib."
"Ein Mann und ein Weib!" - ächzte der Nasenstern -
"Und wenn das Tor aufgemacht
wird, wirft das Weib den Rock ab und es ist auch ein Mann, und es sind dann
zwei Männer, und wir sind nur unserer Drei!"
"Sei kein Hase" - erwiderte Jäkel der Narr -
"und sei herzhaft und zeige Courage!"
"Courage!" - rief der Nasenstern und lachte mit verdrießlicher Bitterkeit -
"Hase! Hase ist ein schlechter Vergleich, Hase ist ein unreines Tier. Courage!
Man hat mich nicht der Courage wegen hierhergestellt, sondern der Vorsicht
halber. Wenn zu viele kommen soll ich schreien. Aber ich selbst kann sie nicht
zurückhalten. Mein Arm ist schwach, ich trage eine Fontenelle und ich bin ein
einzelner Mensch. Wenn man auf mich schießt bin ich tot. Dann sitzt der reiche
Mendel Reiß am Sabbat bei Tische, und wischt sich vom Maul die Rosinensauce,
und streichelt sich den Bauch, und sagt vielleicht: Das lange Nasensternchen
war doch ein braves Kerlchen, wär' Es nicht gewesen, so hätten sie das Tor
gesprengt, Es hat sich doch für uns totschießen lassen, Es war ein braves
Kerlchen, schade daß es tot ist -"
Die Stimme wurde hier allmählig weich und weinerlich, aber plötzlich schlug sie
über in einen hastigen, fast erbitterten Ton: "Courage! Und damit der reiche
Mendel Reiß sich die Rosinensauce vom Maul abwischen, und sich den Bauch
streicheln, und mich braves Kerlchen nennen möge, soll ich mich totschießen
lassen? Courage! Herzhaft! Der kleine Strauß war herzhaftig, und hat gestern
auf dem Römer dem Stechen zugesehen, und hat geglaubt man kenne ihn nicht, weil
er einen violetten Rock trug, von Samt, drei Gulden die Elle, mit
Fuchsschwänzchen, ganz goldgestickt, ganz prächtig - und sie haben ihm den
violetten Rock so lange geklopft bis er abfärbte und auch sein Rücken violett
geworden ist und nicht mehr menschenähnlich sieht. Courage! Der krumme Leser
war herzhaftig, nannte unseren lumpigen Schultheiß einen Lump, und sie haben
ihn an den Füßen aufgehängt, zwischen zwei Hunden, und der Trommelhans
trommelte. Courage! Sei kein Hase! Unter den vielen Hunden ist der Hase
verloren, ich bin ein einzelner Mensch, und ich habe wirklich Furcht!"
"Schwör mal!" - rief Jäkel der Narr.
"Ich habe wirklich Furcht!" - wiederholte seufzend der Nasenstern - "ich weiß
die Furcht liegt im Geblüt und ich habe es von meiner seligen Mutter -"
"Ja, ja!" - unterbrach ihn Jäkel der Narr - "und deine Mutter hatte es von
ihrem Vater, und der hatte es wieder von dem seinigen, und so hatten es deine
Voreltern einer vom andern, bis auf deinen Stammvater, welcher unter König Saul
gegen die Philister zu Felde zog und der erste war welcher Reißaus nahm. - Aber
sich mal, Rindsköpfchen ist gleich fertig, er hat sich bereits zum viertenmal
gebückt, schon hüpft er wie ein Floh bei dem dreimaligen Worte Heilig, und
jetzt greift er vorsichtig in die Tasche ..."
In der Tat, die Schlüssel rasselten, knarrend öffnete sich ein Flügel des
Tores, und der Rabbi und sein Weib traten in die ganz menschenleere Judengasse.
Der Aufschließer aber, ein kleiner Mann mit gutmütig sauerm Gesicht, nickte
träumerisch wie einer, der in seinen Gedanken nicht gern gestört sein möchte,
und nachdem er das Tor wieder sorgsam verschlossen, schlappte er, ohne ein Wort
zu reden, nach einem Winkel hinter dem Tore, beständig Gebete vor sich
hinmurmelnd. Minder schweigsam war Jäkel der Narr, ein untersetzter, etwas
krummbeinigter Gesell, mit einem lachend vollroten Antlitz und einer
unmenschlich großen Fleischhand, die er, aus den weiten Ärmeln seiner
buntscheckigen Jacke, zum Willkomm hervorstreckte. Hinter ihm zeigte oder
vielmehr barg sich eine lange, magere Gestalt, der schmale Hals weißbefiedert
von einer feinen batistnen Krause, und das dünne, blasse Gesicht gar wundersam
geziert mit einer fast unglaublich langen Nase, die sich neugierig angstvoll
hin und her bewegte.
"Gott willkommen! Zum guten Festtag!" - rief Jäkel der Narr - "wundert Euch
nicht daß jetzt die Gasse so leer und still ist. Alle unsere Leute sind jetzt
in der Synagoge und Ihr kommt eben zur rechten Zeit um dort die Geschichte von
der Opferung Isaaks vorlesen zu hören. Ich kenne sie, es ist eine interessante
Geschichte, und wenn ich sie nicht schon dreiunddreißigmal angehört hätte, so
würde ich sie gern dies Jahr noch einmal hören. Und es ist eine wichtige
Geschichte, denn wenn Abraham den Isaak wirklich geschlachtet hätte, und nicht
den Ziegenbock, so wären jetzt mehr Ziegenböcke und weniger Juden auf der
Welt." - Und mit wahnsinnig lustiger Grimasse fing der Jäkel an folgendes Lied
aus der Agade zu singen:
"Ein Böcklein, ein Böcklein, das gekauft Väterlein, er gab dafür zwei Suslein;
ein Böcklein! ein Böcklein!
"Es kam ein Kätzlein, und aß das Böcklein, das gekauft Väterlein, er gab dafür
zwei Suslein; ein Böcklein, ein Böcklein!
"Es kam ein Hündlein, und biß das Kätzlein, das gefressen das Böcklein, das
gekauft Väterlein, er gab dafür zwei Suslein; ein Böcklein, ein Böcklein!
"Es kam ein Stöcklein und schlug das Hündlein, das gebissen das Kätzlein, das
gefressen das Böcklein, das gekauft Väterlein, er gab dafür zwei Suslein; ein
Böcklein, ein Böcklein!
"Es kam ein Feuerlein und verbrannte das Stöcklein, das geschlagen das
Hündlein, das gebissen das Kätzlein, das gefressen das Böcklein, das gekauft
Väterlein, er gab dafür zwei Suslein; ein Böcklein, ein Böcklein!
"Es kam ein Wässerlein und löschte das Feuerlein, das verbrannt das Stöcklein,
das geschlagen das Hündlein, das gebissen das Kätzlein, das gefressen das
Böcklein, das gekauft Väterlein, er gab dafür zwei Suslein; ein Böcklein, ein
Böcklein!
"Es kam ein Öchslein und soff das Wässerlein, das gelöscht das Feuerlein, das
verbrannt das Stöcklein, das geschlagen das Hündlein, das gebissen das
Kätzlein, das gefressen das Böcklein, das gekauft Väterlein, er gab dafür zwei
Suslein; ein Böcklein, ein Böcklein!
"Es kam ein Schlächterlein und schlachtete das Öchslein, das gesoffen das
Wässerlein, das gelöscht das Feuerlein, das verbrannt das Stöcklein, das
geschlagen das Hündlein, das gebissen das Kätzlein, das gefressen das Böcklein,
das gekauft Väterlein, er gab dafür zwei Suslein; ein Böcklein, ein Böcklein!
"Es kam ein Todesenglein und schlachtete das Schlächterlein, das geschlachtet
das Öchslein, das gesoffen das Wässerlein, das gelöscht das Feuerlein, das
verbrannt das Stöcklein, das geschlagen das Hündlein, das gebissen das
Kätzlein, das gefressen das Böcklein, das gekauft Väterlein, er gab dafür zwei
Suslein; ein Böcklein, ein Böcklein!"
"Ja, schöne Frau" - fügte der Sänger hinzu - "einst kommt der Tag, wo der Engel
des Todes den Schlächter schlachten wird, und all unser Blut kommt über Edom;
denn Gott ist ein rächender Gott - - -"
Aber plötzlich den Ernst, der ihn unwillkürlich beschlichen, gewaltsam
abstreifend, stürzte sich Jäkel der Narr wieder in seine Possenreißerein und
fuhr fort mit schnarrendem Lustigmachertone: "Fürchtet Euch nicht, schöne Frau,
der Nasenstern tut Euch nichts zu Leid. Nur für die alte Schnapper-Elle ist er
gefährlich. Sie hat sich in seine Nase verliebt, aber die verdient es auch. Sie
ist schön wie der Turm der gen Damaskus schaut und erhaben wie die Ceder des
Libanons. Auswendig glänzt sie wie Glimmgold und Sirop, und inwendig ist lauter
Musik und Lieblichkeit. Im Sommer blüht sie, im Winter ist sie zugefroren, und
Sommer und Winter wird sie gehätschelt von Schnapper-Elles weißen Händen. Ja,
die Schnapper-Elle ist verliebt in ihn, ganz vernarrt. Sie pflegt ihn, sie
füttert ihn, und sobald er fett genug ist, wird sie ihn heuraten, und für ihr
Alter ist sie noch jung genug, und wer mal nach dreihundert Jahren hierher nach
Frankfurt kömmt, wird den Himmel nicht sehen können vor lauter Nasensternen!"
"Ihr seid Jäkel der Narr" - rief lachend der Rabbi - "ich merk' es an Euren
Worten. Ich habe oft von Euch sprechen gehört."
"Ja, ja" - erwiderte jener mit drolliger Bescheidenheit - "ja, ja, das macht
der Ruhm. Man ist oft weit und breit für einen größeren Narren bekannt als man
selbst weiß. Doch ich gebe mir viele Mühe ein Narr zu sein und springe und
schüttle mich, damit die Schellen klingeln. Andere haben's leichter ... Aber
sagt mir, Rabbi, warum reiset Ihr am Feiertage?"
"Meine Rechtfertigung" - versetzte der Befragte - "steht im Talmud, und es
heißt: Gefahr vertreibt den Sabbat."
"Gefahr!" - schrie plötzlich der lange Nasenstern und gebärdete sich wie in
Todesangst - "Gefahr! Gefahr! Trommelhans trommel', trommle, Gefahr! Gefahr!
Trommelhans ..."
Draußen aber rief der Trommelhans mit seiner dicken Bierstimme: "Tausend Donner
Sakrament! Der Teufel hole die Juden! Das ist schon das drittemal, daß du mich
heute aus dem Schlafe weckst, Nasenstern! Mach mich nicht rasend! Wenn ich
rase, werde ich wie der leibhaftige Satanas, und dann, so wahr ich ein Christ
bin, dann schieße ich mit der Büchse durch die Gitterluke des Tores, und dann
hüte jeder seine Nase!"
"Schieß nicht! schieß nicht! ich bin ein einzelner Mensch" - wimmerte angstvoll
der Nasenstern und drückte sein Gesicht fest an die nächste Mauer, und in
dieser Stellung verharrte er zitternd und leise betend.
"Sagt, sagt, was ist passiert?" - rief jetzt auch Jäkel der Narr, mit all jener
hastigen Neugier, die schon damals den Frankfurter Juden eigentümlich war.
Der Rabbi aber riß sich von ihm los und ging mit seinem Weibe weiter die
Judengasse hinauf. "Sieh, schöne Sara" - sprach er seufzend - "wie schlecht
geschützt ist Israel! Falsche Freunde hüten seine Tore von außen, und drinnen
sind seine Hüter Narrheit und Furcht!"
Langsam wanderten die beiden durch die lange, leere Straße, wo nur hie und da
ein blühender Mädchenkopf zum Fenster hinausguckte, während sich die Sonne in
den blanken Scheiben festlich heiter bespiegelte. Damals nämlich waren die
Häuser des Judenviertels noch neu und nett, auch niedriger wie jetzt, indem
erst späterhin die Juden, als sie in Frankfurt sich sehr vermehrten und doch
ihr Quartier nicht erweitern durften, dort immer ein Stockwerk über das andere
bauten, sardellenartig zusammenrückten und dadurch an Leib und Seele
verkrüppelten. Der Teil des Judenquartiers, der nach dem großen Brande stehen
geblieben und den man die Alte Gasse nennt, jene hohen schwarzen Häuser, wo ein
grinsendes, feuchtes Volk umherschachert, ist ein schauderhaftes Denkmal des
Mittelalters. Die ältere Synagoge existiert nicht mehr; sie war minder geräumig
als die jetzige, die später erbaut wurde, nachdem die Nüremberger Vertriebenen
in die Gemeinde aufgenommen worden. Sie lag nördlicher. Der Rabbi brauchte ihre
Lage nicht erst zu erfragen. Schon aus der Ferne vernahm er die vielen,
verworrenen und überaus lauten Stimmen. Im Hofe des Gotteshauses trennte er
sich von seinem Weibe. Nachdem er an dem Brunnen, der dort steht, seine Hände
gewaschen, trat er in jenen untern Teil der Synagoge, wo die Männer beten; die
schöne Sara hingegen erstieg eine Treppe und gelangte oben nach der Abteilung
der Weiber.
Diese obere Abteilung war eine Art Galerie mit drei Reihen hölzerner, braunrot
angestrichener Sitze, deren Lehne oben mit einem hängenden Brette versehen war,
das, um das Gebetbuch darauf zu legen, sehr bequem aufgeklappt werden konnte.
Die Frauen saßen hier schwatzend neben einander, oder standen aufrecht,
inbrünstig betend; manchmal auch traten sie neugierig an das große Gitter, das
sich längs der Morgenseite hinzog und durch dessen dünne grüne Latten man
hinabschauen konnte in die untere Abteilung der Synagoge. Dort, hinter hohen
Betpulten, standen die Männer in ihren schwarzen Mänteln, die spitzen Bärte
herabschießend über die weißen Halskrausen, und die plattbedeckten Köpfe mehr
oder minder verhüllt von einem viereckigen, mit den gesetzlichen Schaufäden
versehenen Tuche, das aus weißer Wolle oder Seide bestand, mitunter auch mit
goldnen Tressen geschmückt war. Die Wände der Synagoge waren ganz einförmig
geweißt, und man sah dort keine andre Zierat als etwa das vergoldete
Eisengitter um die viereckige Bühne, wo die Gesetzabschnitte verlesen werden,
und die heilige Lade, ein kostbar gearbeiteter Kasten, scheinbar getragen von
marmornen Säulen mit üppigen Kapitälern, deren Blumen- und Laubwerk gar
lieblich emporrankte, und bedeckt mit einem Vorhang von kornblauem Sammet,
worauf mit Goldflittern, Perlen und bunten Steinen eine fromme Inschrift
gestickt war. Hier hing die silberne Gedächtnis-Ampel und erhob sich ebenfalls
eine vergitterte Bühne, auf deren Geländer sich allerlei heilige Geräte
befanden, unter andern der siebenarmige Tempel-Leuchter, und vor demselben, das
Antlitz gegen die Lade, stand der Vorsänger, dessen Gesang instrumentenartig
begleitet wurde von den Stimmen seiner beiden Gehülfen, des Bassisten und des
Diskantsingers. Die Juden haben nämlich alle wirkliche Instrumentalmusik aus
ihrer Kirche verbannt, wähnend, daß der Lobgesang Gottes erbaulicher aufsteige
aus der warmen Menschenbrust als aus kalten Orgelpfeifen. Recht kindlich freute
sich die schöne Sara, als jetzt der Vorsänger, ein trefflicher Tenor, seine
Stimme erhob und die uralten, ernsten Melodien, die sie so gut kannte, in noch
nie geahndeter junger Lieblichkeit aufblüheten, während der Bassist, zum
Gegensatze, die tiefen, dunkeln Töne hineinbrummte, und in den Zwischenpausen
der Diskantsänger fein und süß trillerte. Solchen Gesang hatte die schöne Sara
in der Synagoge von Bacherach niemals gehört, denn der Gemeindevorsteher, David
Lewi, machte dort den Vorsänger, und wenn dieser schon bejahrte zitternde Mann,
mit seiner zerbröckelten, meckernden Stimme wie ein junges Mädchen trillern
wollte, und in solch gewaltsamer Anstrengung seinen schlaff herabhängenden Arm
fieberhaft schüttelte, so reizte dergleichen wohl mehr zum Lachen als zur
Andacht.
Ein frommes Behagen, gemischt mit weiblicher Neugier, zog die schöne Sara ans
Gitter, wo sie hinabschauen konnte in die untere Abteilung, die sogenannte
Männerschule. Sie hatte noch nie eine so große Anzahl Glaubensgenossen gesehen,
wie sie da unten erblickte, und es ward ihr noch heimlich wohler ums Herz in
der Mitte so vieler Menschen, die ihr so nahe verwandt durch gemeinschaftliche
Abstammung, Denkweise und Leiden. Aber noch viel bewegter wurde die Seele des
Weibes, als drei alte Männer ehrfurchtsvoll vor die heilige Lade traten, den
glänzenden Vorhang an die Seite schoben, den Kasten aufschlossen und sorgsam
jenes Buch herausnahmen, das Gott mit heilig eigner Hand geschrieben und für
dessen Erhaltung die Juden so viel erduldet, so viel Elend und Haß, Schmach und
Tod, ein tausendjähriges Martyrium. Dieses Buch, eine große Pergamentrolle, war
wie ein fürstliches Kind in einem buntgestickten Mäntelchen von rotem Sammet
gehüllt; oben, auf den beiden Rollhölzern, steckten zwei silberne Gehäuschen,
worin allerlei Granaten und Glöckchen sich zierlich bewegten und klingelten,
und vorn, an silbernen Kettchen, hingen goldne Schilde mit bunten Edelsteinen.
Der Vorsänger nahm das Buch, und als sei es ein wirkliches Kind, ein Kind um
dessentwillen man große Schmerzen erlitten und das man nur desto mehr liebt,
wiegte er es in seinen Armen, tänzelte damit hin und her, drückte es an seine
Brust, und durchschauert von solcher Berührung, erhub er seine Stimme zu einem
so jauchzend frommen Dankliede, daß es der schönen Sara bedünkte, als ob die
Säulen der heiligen Lade zu blühen begönnen, und die wunderbaren Blumen und
Blätter der Kapitäler immer höher hinaufwüchsen, und die Töne des Diskanten
sich in lauter Nachtigallen verwandelten, und die Wölbung der Synagoge
gesprengt würde von den gewaltigen Tönen des Bassisten, und die Freudigkeit
Gottes herabströmte aus dem blauen Himmel. Das war ein schöner Psalm. Die
Gemeinde wiederholte chorartig die Schlußverse, und nach der erhöhten Bühne in
der Mitte der Synagoge schritt langsam der Vorsänger mit dem heiligen Buche,
während Männer und Knaben sich hastig hinzudrängten um die Sammethülle
desselben zu küssen oder auch nur zu berühren. Auf der erwähnten Bühne zog man
von dem heiligen Buche das samtne Mäntelchen, so wie auch die mit bunten
Buchstaben beschriebenen Windeln, womit es umwickelt war, und aus der
geöffneten Pergamentrolle, in jenem singenden Tone, der am Paschafest noch gar
besonders moduliert wird, las der Vorsänger die erbauliche Geschichte von der
Versuchung Abrahams.
Die schöne Sara war bescheiden vom Gitter zurückgewichen, und eine breite,
putzbeladene Frau von mittlerem Alter und gar gespreizt wohlwollendem Wesen,
hatte ihr, mit stummen Nicken, die Miteinsicht in ihrem Gebetbuche vergönnt.
Diese Frau mochte wohl keine große Schriftgelehrtin sein; denn als sie die
Gebete murmelnd vor sich hinlas, wie die Weiber, da sie nicht laut mitsingen
dürfen, zu tun pflegen, so bemerkte die schöne Sara, daß sie viele Worte
allzusehr nach Gutdünken aussprach und manche gute Zeile ganz überschlupperte.
Nach einer Weile aber hoben sich schmachtend langsam die wasserklaren Augen der
guten Frau, ein flaches Lächeln glitt über das porzellanhaft rot und weiße
Gesicht, und mit einem Tone, der so vornehm als möglich hinschmelzen wollte,
sprach sie zur schönen Sara: "Er singt sehr gut. Aber ich habe doch in Holland
noch viel besser singen hören. Sie sind fremd und wissen vielleicht nicht, daß
es der Vorsänger aus Worms ist, und daß man ihn hier behalten will wenn er mit
jährlichen vierhundert Gulden zufrieden. Es ist ein lieber Mann und seine Hände
sind wie Alabaster. Ich halte viel von einer schönen Hand. Eine schöne Hand
ziert den ganzen Menschen!" - Dabei legte die gute Frau selbstgefällig ihre
Hand, die wirklich noch schön war, auf die Lehne des Betpultes, und mit einer
graziösen Beugung des Hauptes andeutend, daß sie sich im Sprechen nicht gern
unterbrechen lasse, setzte sie hinzu: "Das Singerchen ist noch ein Kind und
sieht sehr abgezehrt aus. Der Baß ist gar zu häßlich und unser Stern hat mal
sehr witzig gesagt: Der Baß ist ein größerer Narr als man von einem Baß zu
verlangen braucht! Alle drei speisen in meiner Garküche, und Sie wissen
vielleicht nicht, daß ich Elle Schnapper bin."
Die schöne Sara dankte für diese Mitteilung, wogegen wieder die Schnapper-Elle
ihr ausführlich erzählte, wie sie einst in Amsterdam gewesen, dort wegen ihrer
Schönheit gar vielen Nachstellungen unterworfen war, und wie sie drei Tage vor
Pfingsten nach Frankfurt gekommen und den Schnapper geheuratet, wie dieser am
Ende gestorben, wie er auf dem Todbette die rührendsten Dinge gesprochen, und
wie es schwer sei als Vorsteherin einer Garküche die Hände zu konservieren.
Manchmal sah sie nach der Seite, mit wegwerfendem Blicke, der wahrscheinlich
einigen spöttischen jungen Weibern galt, die ihren Anzug musterten. Merkwürdig
genug war diese Kleidung: ein weitausgebauschter Rock von weißem Atlas, worin
alle Tierarten der Arche Noä grellfarbig gestickt, ein Wams von Goldstoff wie
ein Küraß, die Ärmel von rotem Samt, gelb geschlitzt, auf dem Haupte eine
unmenschlich hohe Mütze, um den Hals eine allmächtige Krause von weißem
Steiflinnen, so wie auch eine silberne Kette, woran allerlei Schaupfennige,
Kameen und Raritäten, unter andern ein großes Bild der Stadt Amsterdam, bis
über den Busen herabhingen. Aber die Kleidung der übrigen Frauen war nicht
minder merkwürdig und bestand wohl aus einem Gemische von Moden verschiedener
Zeiten, und manches Weiblein, bedeckt mit Gold und Diamanten, glich einem
wandelnden Juwelierladen. Es war freilich den Frankfurter Juden damals eine
bestimmte Kleidung gesetzlich vorgeschrieben, und zur Unterscheidung von den
Christen, sollten die Männer an ihren Mänteln gelbe Ringe und die Weiber an
ihren Mützen hochaufstehende blaugestreifte Schleier tragen. Jedoch im
Judenquartier wurde diese obrigkeitliche Verordnung wenig beachtet, und dort,
besonders an Festtagen, und zumal in der Synagoge, suchten die Weiber so viel
Kleiderpracht als möglich gegen einander auszukramen, teils um sich beneiden zu
lassen, teils um den Wohlstand und die Kreditfähigkeit ihrer Eheherrn darzutun.
Während nun unten in der Synagoge die Gesetzabschnitte aus den Büchern Mosis
vorgelesen werden, pflegt dort die Andacht etwas nachzulassen. Mancher macht es
sich bequem und setzt sich nieder, flüstert auch wohl mit einem Nachbar über
weltliche Angelegenheiten, oder geht hinaus auf den Hof, um frische Luft zu
schöpfen. Kleine Knaben nehmen sich unterdessen die Freiheit ihre Mütter in der
Weiberabteilung zu besuchen, und hier hat alsdann die Andacht wohl noch größere
Rückschritte gemacht; hier wird geplaudert, geruddelt, gelacht, und, wie es
überall geschieht, die jüngeren Frauen scherzen über die alten, und diese
klagen wieder über Leichtfertigkeit der Jugend und Verschlechterung der Zeiten.
Gleichwie es aber unten in der Synagoge zu Frankfurt einen Vorsänger gab, so
gab es in der obern Abteilung eine Vorklatscherin. Das war Hündchen Reiß, eine
platte grünliche Frau, die jedes Unglück witterte und immer eine skandalöse
Geschichte auf der Zunge trug. Die gewöhnliche Zielscheibe ihrer Spitzreden war
die arme Schnapper-Elle, sie wußte gar drollig die erzwungen vornehmen Gebärden
derselben nachzuäffen, so wie auch den schmachtenden Anstand womit sie die
schalkhaften Huldigungen der Jugend entgegen nimmt.
"Wißt Ihr wohl" - rief jetzt Hündchen Reiß - "die Schnapper-Elle hat gestern
gesagt: wenn ich nicht schön und klug und geliebt wäre, so möchte ich nicht auf
der Welt sein!"
Da wurde etwas laut gekichert, und die nahstehende Schnapper-Elle, merkend daß
es auf ihre Kosten geschah, hob verachtungsvoll ihr Auge empor, und wie ein
stolzes Prachtschiff segelte sie nach einem entfernteren Platze. Die Vögele
Ochs, eine runde, etwas täppische Frau, bemerkte mitleidig: die Schnapper-Elle
sei zwar eitel und beschränkt, aber sehr bravmütig, und sie tue sehr viel Gutes
an Leute, die es nötig hätten.
"Besonders an den Nasenstern" - zischte Hündchen Reiß. Und alle die das zarte
Verhältnis kannten, lachten um so lauter.
"Wißt Ihr wohl" - setzte Hündchen hämisch hinzu - "der Nasenstern schläft jetzt
auch im Hause der Schnapper-Elle ... Aber seht mal dort unten die Süschen
Flörsheim trägt die Halskette die Daniel Fläsch bei ihrem Manne versetzt hat.
Die Fläsch ärgert sich ... Jetzt spricht sie mit der Flörsheim ... Wie sie sich
so freundlich die Hand drücken! Und hassen sich doch wie Midian und Moab! Wie
sie sich so liebevoll anlächeln! Freßt Euch nur nicht vor lauter Zärtlichkeit!
Ich will mir das Gespräch anhören."
Und nun, gleich einem lauernden Tiere, schlich Hündchen Reiß hinzu und hörte,
daß die beiden Frauen teilnehmend einander klagten, wie sehr sie sich
verflossene Woche abgearbeitet, um in ihren Häusern aufzuräumen und das
Küchengeschirr zu scheuern, was vor dem Paschafeste geschehen muß, damit kein
einziges Brosämchen der gesäuerten Bröte daran kleben bleibe. Auch von der
Mühseligkeit beim Backen der ungesäuerten Bröte sprachen die beiden Frauen. Die
Fläsch hatte noch besondere Beklagnisse: im Backhause der Gemeinde mußte sie
viel Ärger erleiden, nach der Entscheidung des Loses konnte sie dort erst in
den letzten Tagen, am Vorabend des Festes, und erst spät Nachmittags zum Backen
gelangen, die alte Hanne hatte den Teig schlecht geknetet, die Mägde rollten
mit ihren Wergelhölzern den Teig viel zu dünn, die Hälfte der Bröte verbrannte
im Ofen, und außerdem regnete es so stark, daß es durch das bretterne Dach des
Backhauses beständig tröpfelte, und sie mußten sich dort, naß und müde, bis
tief in die Nacht abarbeiten.
"Und daran, liebe Flörsheim" - setzte die Fläsch hinzu mit einer schonenden
Freundlichkeit, die keineswegs echt war - "daran waren Sie auch ein bischen
schuld, weil Sie mir nicht Ihre Leute zur Hülfleistung beim Backen geschickt
haben."
"Ach Verzeihung" - erwiderte die andre - "meine Leute waren zu sehr
beschäftigt, die Meßwaren müssen verpackt werden, wir haben jetzt so viel zu
tun, mein Mann ..."
"Ich weiß" - fiel ihr die Fläsch mit schneidend hastigem Tone in die Rede -
"ich weiß, Ihr habt viel zu tun, viel Pfänder, und gute Geschäfte, und
Halsketten ..."
Eben wollte ein giftiges Wort den Lippen der Sprecherin entgleiten und die
Flörsheim ward schon rot wie ein Krebs, als plötzlich Hündchen Reiß laut
aufkreischte: "Um Gottes willen, die fremde Frau liegt und stirbt ... Wasser!
Wasser!"
Die schöne Sara lag in Ohnmacht, blaß wie der Tod, und um sie herum drängte
sich ein Schwarm von Weibern, geschäftig und jammernd. Die eine hielt ihr den
Kopf, eine zweite hielt ihr den Arm; einige alte Frauen bespritzten sie mit den
Wassergläschen, die hinter ihren Betpulten hängen, zum Behufe des
Händewaschens, im Fall sie zufällig ihren eignen Leib berührten; andre hielten
unter die Nase der Ohnmächtigen eine alte Zitrone, die mit Gewürznägelchen
durchstochen, noch vom letzten Fasttage herrührte, wo sie zum nervenstärkenden
Anriechen diente. Ermattet und tief seufzend schlug endlich die schöne Sara die
Augen auf, und mit stummen Blicken dankte sie für die gütige Sorgfalt. Doch
jetzt ward unten das Achtzehn-Gebet, welches niemand versäumen darf, feierlich
angestimmt, und die geschäftigen Weiber eilten zurück nach ihren Plätzen, und
verrichteten jenes Gebet, wie es geschehen muß, stehend und das Gesicht
gewendet gegen Morgen, welches die Himmelsgegend wo Jerusalem liegt. Vögele
Ochs, Schnapper-Elle und Hündchen Reiß verweilten am längsten bei der schönen
Sara; die beiden ersteren indem sie ihr eifrigst ihre Dienste anboten, die
letztere, nachdem sie sich nochmals bei ihr erkundigte: weshalb sie so
plötzlich ohnmächtig geworden?
Die Ohnmacht der schönen Sara hatte aber eine ganz besondere Ursache. Es ist
nämlich Gebrauch in der Synagoge, daß jemand, welcher einer großen Gefahr
entronnen, nach der Verlesung der Gesetzabschnitte, öffentlich hervortritt und
der göttlichen Vorsicht für seine Rettung dankt. Als nun Rabbi Abraham zu
solcher Danksagung unten in der Synagoge sich erhob, und die schöne Sara die
Stimme ihres Mannes erkannte, merkte sie wie der Ton derselben allmählig in das
trübe Gemurmel des Totengebetes überging, sie hörte die Namen ihrer Lieben und
Verwandten, und zwar begleitet von jenem segnenden Beiwort, das man den
Verstorbenen erteilt ... und die letzte Hoffnung schwand aus der Seele der
schönen Sara, und ihre Seele ward zerrissen von der Gewißheit, daß ihre Lieben
und Verwandte wirklich ermordet worden, daß ihre kleine Nichte tot sei, daß
auch ihre Bäschen, Blümchen und Vögelchen, tot seien, auch der kleine
Gottschalk tot sei, alle ermordet und tot! Von dem Schmerze dieses Bewußtseins
wäre sie schier selber gestorben, hätte sich nicht eine wohltätige Ohnmacht
über ihre Sinne ergossen.
Drittes Kapitel
Als die schöne Sara, nach beendigtem Gottesdienste, in den Hof der Synagoge
hinabstieg, stand dort der Rabbi, harrend seines Weibes. Er nickte ihr mit
heiterem Antlitz und geleitete sie hinaus auf die Straße, wo die frühere Stille
ganz verschwunden und ein lärmiges Menschengewimmel zu schauen war. Bärtige
Schwarzröcke, wie Ameisenhaufen; Weiber, glanzreich hinflatternd, wie
Goldkäfer; neugekleidete Knaben, die den Alten die Gebetbücher nachtrugen;
junge Mädchen, die, weil sie nicht in die Synagoge gehen dürfen, jetzt aus den
Häusern ihren Eltern entgegenhüpfen, vor ihnen die Lockenköpfchen beugen, um
den Segen zu empfangen: Alle heiter und freudig, und die Gasse auf und ab
spazierend, im seligen Vorgefühl eines guten Mittagsmahls, dessen lieblicher
Duft schon mundwässernd hervorstieg aus den schwarzen, mit Kreide bezeichneten
Töpfen, die eben von den lachenden Mägden aus dem großen Gemeinde-Ofen geholt
worden.
In diesem Gewirre war besonders bemerkbar die Gestalt eines spanischen Ritters,
auf dessen jugendlichen Gesichtszügen jene reizende Blässe lag, welche die
Frauen gewöhnlich einer unglücklichen Liebe, die Männer hingegen einer
glücklichen zuschreiben. Sein Gang, obschon gleichgültig hinschlendernd, hatte
dennoch eine etwas gesuchte Zierlichkeit; die Federn seines Barettes bewegten
sich mehr durch das vornehme Wiegen des Hauptes, als durch das Wehen des
Windes; mehr als eben notwendig klirrten seine goldenen Sporen und das
Wehrgehänge seines Schwertes, welches er im Arme zu tragen schien, und dessen
Griff kostbar hervorblitzte aus dem weißen Reutermantel, der seine schlanken
Glieder scheinbar nachlässig umhüllte und dennoch den sorgfältigsten Faltenwurf
verriet. Hin und wieder, teils mit Neugier, teils mit Kennermiene nahte er sich
den vorüberwandelnden Frauenzimmern, sah ihnen seelenruhig fest ins Antlitz,
verweilte bei solchem Anschaun wenn die Gesichter der Mühe lohnten, sagte auch
manchem liebenswürdigen Kinde einige rasche Schmeichelworte, und schritt
sorglos weiter ohne die Wirkung zu erwarten. Die schöne Sara hatte er schon
mehrmals umkreist, jedesmal wieder zurückgescheucht von dem gebietenden Blick
derselben oder auch von der rätselhaft lächelnden Miene ihres Mannes, aber
endlich, in stolzem Abstreifen aller scheuen Befangenheit, trat er beiden keck
in den Weg, und mit stutzerhafter Sicherheit und süßlich galantem Tone hielt er
folgende Anrede:
"Sennora, ich schwöre! Hört, Sennora, ich schwöre! Bei den Rosen beider
Kastilien, bei den aragonesischen Hyazinthen und andalusischen Granatblüten!
Bei der Sonne die ganz Spanien mit all seinen Blumen, Zwiebeln, Erbsensuppen,
Wäldern, Bergen, Mauleseln, Ziegenböcken und Alt-Christen beleuchtet! Bei der
Himmelsdecke, woran diese Sonne nur ein goldner Quast ist! Und bei dem Gott,
der auf der Himmelsdecke sitzt, und Tag und Nacht über neue Bildungen
holdseliger Frauengestalten nachsinnt ... Ich schwöre, Sennora, Ihr seid das
schönste Weib, das ich in deutschen Landen gesehen habe, und so Ihr gewillet
seid meine Dienste anzunehmen, so bitte ich Euch um die Gunst, Huld und
Erlaubnis mich Euren Ritter nennen zu dürfen, und in Schimpf und Ernst Eure
Farben zu tragen!"
Ein errötender Schmerz glitt über das Antlitz der schönen Sara, und mit einem
Blicke, der um so schneidender wirkt, je sanfter die Augen sind die ihn
versenden, und mit einem Tone, der um so vernichtender je bebend weicher die
Stimme, antwortete die tiefgekränkte Frau:
"Edler Herr! Wenn Ihr mein Ritter sein wollt, so müßt Ihr gegen ganze Völker
kämpfen, und in diesem Kampfe gibt es wenig Dank und noch weniger Ehre zu
gewinnen! Und wenn Ihr gar meine Farben tragen wollt, so müßt Ihr gelbe Ringe
auf Euren Mantel nähen oder eine blaugestreifte Schärpe umbinden: denn dieses
sind meine Farben, die Farben meines Hauses, des Hauses welches Israel heißt,
und sehr elend ist, und auf den Gassen verspottet wird von den Söhnen des
Glücks!"
Plötzliche Purpurröte bedeckte die Wangen des Spaniers, eine unendliche
Verlegenheit arbeitete in allen seinen Zügen und fast stotternd sprach er:
"Sennora ... Ihr habt mich mißverstanden ... unschuldiger Scherz ... aber, bei
Gott, kein Spott, kein Spott über Israel ... Ich stamme selber aus dem Hause
Israel ... mein Großvater war ein Jude, vielleicht so gar mein Vater ..."
"Und ganz sicher, Sennor, ist Eur Oheim ein Jude" - fiel ihm der Rabbi, der
dieser Szene ruhig zugesehen, plötzlich in die Rede, und mit einem fröhlich
neckenden Blicke setzte er hinzu: - "und ich will mich selbst dafür verbürgen,
daß Don Isaak Abarbanel, Neffe des großen Rabbi, dem besten Blute Israels
entsprossen ist, wo nicht gar dem königlichen Geschlechte Davids!"
Da klirrte das Schwertgehänge unter dem Mantel des Spaniers, seine Wangen
erblichen wieder bis zur fahlsten Blässe, auf seiner Oberlippe zuckte es wie
Hohn der mit dem Schmerze ringt, aus seinen Augen grinste der zornigste Tod,
und in einem ganz verwandelten, eiskalten, scharfgehackten Tone sprach er:
"Sennor Rabbi! Ihr kennt mich. Nun wohlan, so wißt Ihr auch wer ich bin. Und
weiß der Fuchs, daß ich der Brut des Löwen angehöre, so wird er sich hüten, und
seinen Fuchsbart nicht in Lebensgefahr bringen und meinen Zorn nicht reizen!
Wie will der Fuchs den Löwen richten? Nur wer wie der Löwe fühlt, kann seine
Schwächen begreifen ..."
"O, ich begreife es wohl" - antwortete der Rabbi und wehmütiger Ernst zog über
seine Stirne - "ich begreife es wohl, wie der stolze Leu aus Stolz seinen
fürstlichen Pelz abwirft und sich in den bunten Schuppenpanzer des Krokodils
verkappt, weil es Mode ist ein greinendes, schlaues, gefräßiges Krokodil zu
sein! Was sollen erst die geringeren Tiere beginnen, wenn sich der Löwe
verleugnet? Aber hüte dich, Don Isaak, du bist nicht geschaffen für das Element
des Krokodils. Das Wasser - (du weißt wohl wovon ich rede) - ist dein Unglück,
und du wirst untergehn. Nicht im Wasser ist dein Reich; die schwächste Forelle
kann besser darin gedeihen als der König des Waldes. Weißt du noch, wie dich
die Strudel des Tago verschlingen wollten ..."
In ein lautes Gelächter ausbrechend, fiel Don Isaak plötzlich dem Rabbi um den
Hals, verschloß seinen Mund mit Küssen, sprang sporenklirrend vor Freude in die
Höhe, daß die vorbeigehenden Juden zurückschraken, und in seinem natürlich
herzlich heiteren Tone rief er:
"Wahrhaftig, du bist Abraham von Bacherach! Und es war ein guter Witz und
obendrein ein Freundschaftsstück, als du zu Toledo von der Alkantara-Brücke ins
Wasser sprangest und deinen Freund, der besser trinken als schwimmen konnte,
beim Schopf faßtest und aufs Trockene zogest! Ich war nahe dran, recht
gründliche Untersuchungen anzustellen: ob auf dem Grunde des Tago wirklich
Goldkörner zu finden, und ob ihn mit Recht die Römer den goldnen Fluß genannt
haben? Ich sage dir, ich erkälte mich noch heute durch die bloße Erinnerung an
jene Wasserpartie."
Bei diesen Worten gebärdete sich der Spanier, als wollte er anhängende
Wassertropfen von sich abschütteln. Das Antlitz des Rabbi aber war gänzlich
aufgeheitert. Er drückte seinem Freunde wiederholentlich die Hand und jedesmal
sagte er: "Ich freue mich!"
"Und ich freue mich ebenfalls" - sprach der andre - "wir haben uns seit sieben
Jahren nicht gesehen; bei unserem Abschied war ich noch ein ganz junger
Gelbschnabel, und du, du warst schon so gesetzt und ernsthaft ... Was ward aber
aus der schönen Donna, die dir damals so viele Seufzer kostete, wohlgereimte
Seufzer, die du mit Lautenklang begleitet hast ..."
"Still, still! die Donna hört uns, sie ist mein Weib, und du selbst hast ihr
heute eine Probe deines Geschmackes und Dichtertalents dargebracht."
Nicht ohne Nachwirkung der früheren Verlegenheit, begrüßte der Spanier die
schöne Frau, welche mit anmutiger Güte jetzt bedauerte, daß sie durch
Äußerungen des Unmuts einen Freund ihres Mannes betrübt habe.
"Ach, Sennora" - antwortete Don Isaak - "wer mit täppischer Hand nach einer
Rose griff, darf sich nicht beklagen, daß ihn die Dornen verletzten! Wenn der
Abendstern sich im blauen Strome goldfunkelt abspiegelt ..."
"Ich bitte dich um Gotteswillen" - unterbrach ihn der Rabbi - "hör auf! ... Wenn
wir solange warten sollen bis der Abendstern sich im blauen Strome goldfunkelt
abspiegelt, so verhungert meine Frau; sie hat seit gestern nichts gegessen und
seitdem viel Ungemach und Mühsal erlitten."
"Nun, so will ich Euch nach der besten Garküche Israels führen" - rief Don
Isaak - "nach dem Hause meiner Freundin Schnapper-Elle, das hier in der Nähe.
Schon rieche ich ihren holden Duft, nämlich der Garküche. O wüßtest du,
Abraham, wie dieser Duft mich anspricht! Er ist es, der mich, seit ich in
dieser Stadt verweile, so oft hinlockt nach den Zelten Jakobs. Der Verkehr mit
dem Volke Gottes ist sonst nicht meine Liebhaberei, und wahrlich nicht um hier
zu beten, sondern um zu essen besuche ich die Judengasse ..."
"Du hast uns nie geliebt, Don Isaak ..."
"Ja" - fuhr der Spanier fort - "ich liebe Eure Küche weit mehr als Euren
Glauben; es fehlt ihm die rechte Sauce. Euch selber habe ich nie ordentlich
verdauen können. Selbst in Euren besten Zeiten, selbst unter der Regierung
meines Ahnherrn Davids, welcher König war über Juda und Israel, hätte ich es
nicht unter Euch aushalten können, und ich wäre gewiß eines frühen Morgens aus
der Burg Sion entsprungen und nach Phönizien emigriert, oder nach Babylon, wo
die Lebenslust schäumte im Tempel der Götter ..."
"Du lästerst, Isaak, den einzigen Gott" - murmelte finster der Rabbi - "du bist
weit schlimmer als ein Christ, du bist ein Heide, ein Götzendiener ..."
"Ja, ich bin ein Heide, und eben so zuwider wie die dürren, freudlosen Hebräer
sind mir die trüben, qualsüchtigen Nazarener. Unsre liebe Frau von Sidon, die
heilige Astarte, mag es mir verzeihen, daß ich vor der schmerzenreichen Mutter
des Gekreuzigten niederknie und bete ... Nur mein Knie und meine Zunge huldigt
dem Tode, mein Herz blieb treu dem Leben! ..."
"Aber schau nicht so sauer" - fuhr der Spanier fort in seiner Rede, als er sah
wie wenig dieselbe den Rabbi zu erbauen schien - "schau mich nicht an mit
Abscheu. Meine Nase ist nicht abtrünnig geworden. Als mich einst der Zufall, um
Mittagszeit, in diese Straße führte, und aus den Küchen der Juden mir die
wohlbekannten Düfte in die Nase stiegen: da erfaßte mich jene Sehnsucht, die
unsere Väter empfanden, als sie zurückdachten an die Fleischtöpfe Ägyptens;
wohlschmeckende Jugenderinnerungen stiegen in mir auf; ich sah wieder im Geiste
die Karpfen mit brauner Rosinensauce, die meine Tante für den Freitagabend so
erbaulich zu bereiten wußte; ich sah wieder das gedämpfte Hammelfleisch mit
Knoblauch und Mairettig, womit man die Toten erwecken kann, und die Suppe mit
schwärmerisch schwimmenden Klößchen ... und meine Seele schmolz, wie die Töne
einer verliebten Nachtigall, und seitdem esse ich in der Garküche meiner
Freundin Donna Schnapper-Elle!"
Diese Garküche hatte man unterdessen erreicht; Schnapper-Elle selbst stand an
die Türe ihres Hauses, die Meßfremden, die sich hungrig hineindrängten,
freundlich begrüßend. Hinter ihr, den Kopf über ihre Schulter hinauslehnend,
stand der lange Nasenstern und musterte neugierig ängstlich die Ankömmlinge.
Mit übertriebener Grandezza nahte sich Don Isaak unserer Gastwirtin, die seine
schalkhaft tiefen Verbeugungen mit unendlichen Knicksen erwiderte; drauf zog er
den Handschuh ab von seiner rechten Hand, umwickelte sie mit dem Zipfel seines
Mantels, ergriff damit die Hand der Schnapper-Elle, strich sie langsam über die
Haare seines Stutzbartes und sprach:
"Sennora! Eure Augen wetteifern mit den Gluten der Sonne! Aber obgleich die
Eier, je länger sie gekocht werden, sich desto mehr verhärten, so wird dennoch
mein Herz nur um so weicher je länger es von den Flammenstrahlen Eurer Augen
gekocht wird! Aus der Dotter meines Herzens flattert hervor der geflügelte Gott
Amor und sucht ein trauliches Nestchen in Eurem Busen ... Diesen Busen, Sennora,
womit soll ich ihn vergleichen? Es gibt in der weiten Schöpfung keine Blume,
keine Frucht, die ihm ähnlich wäre! Dieses Gewächs ist einzig in seiner Art.
Obgleich der Sturm die zartesten Röslein entblättert, so ist doch Eur Busen
eine Winterrose, die allen Winden trotzt! Obgleich die saure Zitrone, je mehr
sie altert, nur desto gelber und runzlichter wird, so wetteifert dennoch Eur
Busen mit der Farbe und Zartheit der süßesten Ananas! O Sennora, ist auch die
Stadt Amsterdam so schön, wie Ihr mir gestern und vorgestern und alle Tage
erzählt habt, so ist doch der Boden worauf sie ruht noch tausendmal schöner ..."
Der Ritter sprach diese letzteren Worte mit erheuchelter Befangenheit und
schielte schmachtend nach dem großen Bilde, das an Schnapper-Elles Halse hing;
der Nasenstern schaute von oben herab mit suchenden Augen, und der belobte
Busen setzte sich in eine so wogende Bewegung, daß die Stadt Amsterdam hin und
her wackelte.
"Ach!" - seufzte die Schnapper-Elle - "Tugend ist mehr wert als Schönheit. Was
nützt mir die Schönheit? Meine Jugend geht vorüber, und seit Schnapper tot ist
- er hat wenigstens seine Hände gehabt - was hilft mir da die Schönheit?"
Und dabei seufzte sie wieder, und wie ein Echo, fast unhörbar, seufzte hinter
ihr der Nasenstern.
"Was Euch die Schönheit nützt?" - rief Don Isaak - "O, Donna Schnapper-Elle,
versündigt Euch nicht an der Güte der schaffenden Natur! Schmäht nicht ihre
holdesten Gaben! Sie würde sich furchtbar rächen. Diese beseligenden Augen
würden blöde verglasen, diese anmutigen Lippen würden sich bis ins
Abgeschmackte verplatten, dieser keusche, liebesuchende Leib würde sich in eine
schwerfällige Talgtonne verwandeln, die Stadt Amsterdam würde auf einen
muffigen Morast zu ruhen kommen -"
Und so schilderte er Stück vor Stück das jetzige Aussehn der Schnapper-Elle, so
daß der armen Frau sonderbar beängstigend zu Mute ward, und sie den
unheimlichen Reden des Ritters zu entrinnen suchte. In diesem Augenblicke war
sie doppelt froh als sie der schönen Sara ansichtig ward und sich
angelegentlichst erkundigen konnte, ob sie ganz von ihrer Ohnmacht genesen. Sie
stürzte sich dabei in ein lebhaftes Gespräch, worin sie alle ihre falsche
Vornehmtuerei und echte Herzensgüte entwickelte, und mit mehr Weitläufigkeit
als Klugheit die fatale Geschichte erzählte, wie sie selbst vor Schrecken fast
in Ohnmacht gefallen wäre, als sie wildfremd mit der Trekschuite zu Amsterdam
ankam, und der spitzbübische Träger ihres Koffers sie nicht in ein ehrbares
Wirtshaus, sondern in ein freches Frauenhaus brachte, was sie bald gemerkt an
dem vielen Brannteweingesöffe und den unsittlichen Zumutungen ... und sie wäre,
wie gesagt, wirklich in Ohnmacht gefallen, wenn sie es, während den sechs
Wochen, die sie in jenem verfänglichen Hause zubrachte, nur einen Augenblick
wagen durfte die Augen zu schließen ...
"Meiner Tugend wegen" - setzte sie hinzu - "durfte ich es nicht wagen. Und das
alles passierte mir wegen meiner Schönheit! Aber Schönheit vergeht und Tugend
besteht."
Don Isaak war schon im Begriff die Einzelheiten dieser Geschichte kritisch zu
beleuchten, als glücklicherweise der schele Aron Hirschkuh, von Homburg an der
Lahn, mit der weißen Serviette im Maule, aus dem Hause hervorkam, und ärgerlich
klagte, daß schon längst die Suppe aufgetragen sei und die Gäste zu Tische
säßen und die Wirtin fehle - - - - - -
(Der Schluß und die folgenden Kapitel sind, ohne Verschulden des Autors,
verloren gegangen.)
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Prosa: (Reisebilder) 'Die kleine Harfenistin' (1826-31)
Die kleine Harfenistin mußte wohl bemerkt haben, daß ich, während sie sang und spielte, oft nach ihrer
Busenrose hinblickte, und als ich nachher auf den zinnernen Teller, womit sie ihr Honorar einsammelte, ein
Geldstück warf, das nicht allzu klein war, da lächelte sie schlau und frug heimlich, ob ich ihre Rose haben wolle.
Nun bin ich aber der höflichste Mensch von der Welt, und um die Welt möchte ich nicht eine Rose beleidigen, und sei
es auch eine Rose, die sich schon ein bißchen verduftet hat. Und wenn sie auch nicht mehr, so dacht ich, ganz frisch
riecht und nicht mehr im Geruche der Tugend ist, wie etwa die Rose von Saron, was kümmert es mich, der ich ja doch
den Stockschnupfen habe! Und nur die Menschen nehmen's so genau.
Der Schmetterling fragt nicht die Blume:
"Hat schon ein anderer dich geküßt?" Und diese fragt nicht: "Hast du schon eine andere umflattert?"
Dazu kam noch, daß die Nacht hereinbrach, und des Nachts, dacht ich, sind alle Blumen grau, die sündigste Rose
ebensogut wie die tugendhafteste Petersilie. Kurz und gut, ohne allzulanges Zögern sagte ich zu der kleinen
Harfenistin: "Si, Signora" – – –
Denk nur nichts Böses, lieber Leser. Es war dunkel geworden, und die Sterne sahen so klar und fromm herab in mein
Herz. Im Herzen selbst aber zitterte die Erinnerung an die tote Maria. Ich dachte wieder an jene Nacht, als ich vor
dem Bette stand, worauf der schöne, blasse Leib lag mit sanften, stillen Lippen – Ich dachte wieder an den
sonderbaren Blick, den mir die alte Frau zuwarf, die bei der Leiche wachen sollte und mir ihr Amt auf einige
Stunden überließ – Ich dachte wieder an die Nachtviole, die im Glase auf dem Tische stand und so seltsam duftete –
Auch durchschauerte mich wieder der Zweifel, ob es wirklich ein Windzug war, wovon die Lampe erlosch. Ob wirklich
kein Dritter im Zimmer war?
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