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Heinrich von Kleist
(*18. Okt. 1777 †21. Nov. 1811)
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Vermischtes:
Über das Marionettentheater
»Als ich den Winter 1801 in M ... zubrachte, traf ich daselbst eines Abends, in einem öffentlichen Garten,
den Hrn. C. an, ...«
Das Bettelweib von Locarno
»Am Fuße der Alpen, bei Locarno im oberen Italien, befand sich ein altes, einem Marchese gehöriges Schloß,
...«
Heinrich von Kleist gehört zu den Vertretern der 'Romantik'.
Seine bekannteste Komödie ist 'Der zerbrochene Krug' um den Dorfrichter Adam.
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Autoren der 'Romantik':
Achim von Arnim,
Clemens Brentano,
Adelbert von Chamisso,
Joseph Freiherr von Eichendorff,
(Johann Wolfgang (von) Goethe),
E.T.A. Hoffmann,
Heinrich von Kleist,
Novalis,
August Wilhelm Schlegel,
Friedrich Schlegel,
Ludwig Tieck.
Literatur-Zeitgenossen (18. Jh.):
*1708 †1754 Friedrich von Hagedorn
*1715 †1769 Christian Fürchtegott Gellert
*1724 †1803 Friedrich Gottlieb Klopstock
*1729 †1781 Gotthold Ephraim Lessing
*1739 †1791 Christian Schubart
*1733 †1813 Christoph Martin Wieland
*1735 †1787 Johann Karl August Musäus
*1740 †1815 Matthias Claudius
*1742 †1799 Georg Christoph Lichtenberg
*1744 †1803 Johann Gottfried Herder
*1747 †1794 Gottfried August Bürger
*1749 †1832 Johann Wolfgang von Goethe
*1752 †1796 Adolph Knigge
*1759 †1805 Friedrich von Schiller
*1760 †1826 Johann Peter Hebel
*1763 †1825 Jean Paul
*1769 †1860 Ernst Moritz Arndt
*1770 †1843 Friedrich Hölderlin
*1772 †1801 Novalis
*1773 †1853 Ludwig Tieck
*1776 †1822 E.T.A. Hoffmann
*1777 †1811 Heinrich von Kleist
*1778 †1842 Clemens Brentano
*1781 †1831 Achim von Arnim
*1781 †1838 Adelbert von Chamisso
*1785 †1863 Jacob Grimm
*1786 †1859 Wilhelm Grimm
*1786 †1837 Carl Ludwig Börne
*1787 †1862 Ludwig Uhland
*1788 †1860 * Arthur Schopenhauer
*1788 †1857 Joseph von Eichendorff
*1791 †1872 Franz Grillparzer
*1796 †1866 Friedrich Rückert
*1797 †1848 Annette von Droste-Hülshoff
*1797 †1856 Heinrich Heine
*1798 †1874 Hoffmann (von Fallersleben)
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Prosa: Über das Marionettentheater (18xx)
EXIF: b_0556.jpg © wispor.de
Als ich den Winter 1801 in M ... zubrachte, traf ich daselbst eines Abends, in einem öffentlichen Garten,
den Hrn. C. an, der seit kurzem, in dieser Stadt, als erster Tänzer der Oper, angestellt war, und bei
dem Publico außerordentliches Glück machte.
Ich sagte ihm, daß ich erstaunt gewesen wäre, ihn schon mehreremal in einem Marionettentheater zu finden, das auf
dem Markte zusammengezimmert worden war, und den Pöbel, durch kleine dramatische Burlesken, mit Gesang und Tanz
durchwebt, belustigte.
Er versicherte mir, daß ihm die Pantomimik dieser Puppen viel Vergnügen machte, und ließ nicht undeutlich merken,
daß ein Tänzer, der sich ausbilden wolle, mancherlei von ihnen lernen könne.
Da diese Äußerung mir, durch die Art, wie er sie vorbrachte, mehr, als ein bloßer Einfall schien, so ließ ich mich
bei ihm nieder, um ihn über die Gründe, auf die er eine so sonderbare Behauptung stützen könne, näher zu vernehmen.
Er fragte mich, ob ich nicht, in der Tat, einige Bewegungen der Puppen, besonders der kleineren, im Tanz sehr graziös
gefunden hatte.
Diesen Umstand konnt ich nicht leugnen. Eine Gruppe von vier Bauern, die nach einem raschen Takt die Ronde tanzte,
hätte von Teniers nicht hübscher gemalt werden können.
Ich erkundigte mich nach dem Mechanismus dieser Figuren, und wie es möglich wäre, die einzelnen Glieder derselben
und ihre Punkte, ohne Myriaden von Fäden an den Fingern zu haben, so zu regieren, als es der Rhythmus der Bewegungen,
oder der Tanz, erfordere?
Er antwortete, daß ich mir nicht vorstellen müsse, als ob jedes Glied einzeln, während der verschiedenen Momente
des Tanzes, von dem Maschinisten gestellt und gezogen würde.
Jede Bewegung, sagte er, hätte einen Schwerpunkt; es wäre genug, diesen, in dem Innern der Figur, zu regieren; die
Glieder, welche nichts als Pendel wären, folgten, ohne irgendein Zutun, auf eine mechanische Weise von selbst.
Er setzte hinzu, daß diese Bewegung sehr einfach wäre; daß jedesmal, wenn der Schwerpunkt in einer
graden Linie bewegt wird, die Glieder schon
Kurven beschrieben; und daß oft, auf eine bloß zufällige
Weise erschüttert, das Ganze schon in eine Art von rhythmische Bewegung käme, die dem Tanz ähnlich wäre.
Diese Bemerkung schien mir zuerst einiges Licht über das Vergnügen zu werfen, das er in dem Theater der
Marionetten zu finden vorgegeben hatte. Inzwischen ahndete ich bei weitem die Folgerungen noch nicht, die er
späterhin daraus ziehen würde.
Ich fragte ihn, ob er glaubte, daß der Maschinist, der diese Puppen regierte, selbst ein Tänzer sein, oder
wenigstens einen Begriff vom Schönen im Tanz haben müsse?
Er erwiderte, daß wenn ein Geschäft, von seiner mechanischen Seite, leicht sei, daraus noch nicht folge, daß es
ganz ohne Empfindung betrieben werden könne.
Die Linie, die der Schwerpunkt zu beschreiben hat, wäre zwar sehr einfach, und, wie er glaube, in den meisten
Fällen, gerad. In Fällen, wo sie krumm sei, scheine das Gesetz ihrer Krümmung wenigstens von der ersten oder
höchstens zweiten Ordnung; und auch in diesem letzten Fall nur elliptisch, welche Form der Bewegung den Spitzen
des menschlichen Körpers (wegen der Gelenke) überhaupt die natürliche sei, und also dem Maschinisten keine große
Kunst koste, zu verzeichnen.
Dagegen wäre diese Linie wieder, von einer andern Seite, etwas sehr Geheimnisvolles. Denn sie wäre nichts
anders, als der Weg der Seele des Tänzers; und er zweifle, daß sie anders
gefunden werden könne, als dadurch, daß sich der Maschinist in den Schwerpunkt der Marionette versetzt,
d. h. mit andern Worten, tanzt.
Ich erwiderte, daß man mir das Geschäft desselben als etwas ziemlich Geistloses vorgestellt hätte: etwa was
das Drehen einer Kurbel sei, die eine Leier spielt.
»Keineswegs«, antwortete er. »Vielmehr verhalten sich die Bewegungen seiner Finger zur Bewegung der daran
befestigten Puppen ziemlich künstlich, etwa wie Zahlen zu ihren Logarithmen oder die Asymptote zur Hyperbel.«
Inzwischen glaube er, daß auch dieser letzte Bruch von Geist, von dem er gesprochen, aus den Marionetten
entfernt werden, daß ihr Tanz gänzlich ins Reich mechanischer Kräfte hinübergespielt, und vermittelst einer
Kurbel, so wie ich es mir gedacht, hervorgebracht werden könne.
Ich äußerte meine Verwunderung zu sehen, welcher Aufmerksamkeit er diese, für den Haufen erfundene, Spielart
einer schönen Kunst würdige. Nicht bloß, daß er sie einer höheren Entwickelung für fähig halte: er scheine
sich sogar selbst damit zu beschäftigen.
Er lächelte, und sagte, er getraue sich zu behaupten, daß wenn ihm ein Mechanikus, nach den Forderungen,
die er an ihn zu machen dächte, eine Marionette bauen wollte, er vermittelst derselben einen Tanz darstellen
würde, den weder er, noch irgendein anderer geschickter Tänzer seiner Zeit, Vestris selbst nicht ausgenommen,
zu erreichen imstande wäre.
»Haben Sie«, fragte er, da ich den Blick schweigend zur Erde schlug:
»haben Sie von jenen mechanischen Beinen gehört, welche englische Künstler für
Unglückliche verfertigen, die ihre Schenkel verloren haben?«
Ich sagte, nein: dergleichen wäre mir nie vor Augen gekommen.
»Es tut mir leid«, erwiderte er;
»denn wenn ich Ihnen sage, daß diese Unglücklichen damit tanzen, so fürchte ich
fast, Sie werden es mir nicht glauben. – Was sag ich, tanzen? Der Kreis ihrer Bewegungen ist zwar beschränkt;
doch diejenigen, die ihnen zu Gebote stehen, vollziehen sich mit einer Ruhe, Leichtigkeit und Anmut, die
jedes denkende Gemüt in Erstaunen setzen.«
Ich äußerte, scherzend, daß er ja, auf diese Weise, seinen Mann gefunden habe. Denn derjenige Künstler, der
einen so merkwürdigen Schenkel zu bauen imstande sei, würde ihm unzweifelhaft auch eine ganze Marionette,
seinen Forderungen gemäß, zusammensetzen können.
»Wie«, fragte ich, da er seinerseits ein wenig betreten zur Erde sah:
»wie sind denn diese Forderungen, die Sie an die
Kunstfertigkeit desselben zu machen gedenken, bestellt?«
»Nichts«, antwortete er, »was sich nicht auch schon hier fände; Ebenmaß, Beweglichkeit, Leichtigkeit – nur alles
in einem höheren Grade; und besonders eine naturgemäßere Anordnung der Schwerpunkte.«
»Und der Vorteil, den diese Puppe vor lebendigen Tänzern voraushaben würde?«
»Der Vorteil? Zuvörderst ein negativer, mein vortrefflicher Freund, nämlich dieser, daß sie sich niemals
zierte. – Denn Ziererei erscheint, wie Sie wissen, wenn sich die Seele (vis motrix) in irgendeinem andern
Punkte befindet, als in dem Schwerpunkt der Bewegung. Da der Maschinist nun schlechthin, vermittelst des
Drahtes oder Fadens, keinen andern Punkt in seiner Gewalt hat, als diesen: so sind alle übrigen Glieder,
was sie sein sollen, tot, reine Pendel, und folgen dem bloßen Gesetz der Schwere; eine vortreffliche
Eigenschaft, die man vergebens bei dem größesten Teil unsrer Tänzer sucht.
Sehen Sie nur die P ... an«, fuhr er fort, »wenn sie die Daphne spielt,
und sich, verfolgt vom Apoll, nach ihm umsieht; die Seele sitzt ihr in den Wirbeln des Kreuzes; sie beugt sich,
als ob sie brechen wollte,
wie eine Najade aus der Schule Bernins. Sehen Sie den jungen F ... an, wenn er, als Paris, unter den
drei Göttinnen steht, und der Venus den Apfel überreicht: die Seele sitzt ihm gar (es ist ein Schrecken,
es zu sehen) im Ellenbogen.
Solche Mißgriffe«, setzte er abbrechend hinzu, »sind
unvermeidlich, seitdem wir von dem Baum der Erkenntnis gegessen haben. Doch das Paradies
ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und
sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist.«
Ich lachte. – Allerdings, dachte ich, kann der Geist nicht irren, da, wo keiner vorhanden ist. Doch ich
bemerkte, daß er noch mehr auf dem Herzen hatte, und bat ihn, fortzufahren.
»Zudem«, sprach er,
»haben diese Puppen den Vorteil, daß sie
antigrav sind. Von der Trägheit der Materie, dieser dem Tanze entgegenstrebendsten aller Eigenschaften,
wissen sie nichts: weil die Kraft, die sie in die Lüfte erhebt, größer ist, als jene, die sie an der Erde
fesselt. Was würde unsre gute G ... darum geben, wenn sie sechzig Pfund leichter wäre, oder ein Gewicht von
dieser Größe ihr bei ihren Entrechats und Pirouetten, zu Hülfe käme? Die Puppen brauchen den Boden nur, wie
die Elfen, um ihn zu streifen, und den Schwung der Glieder, durch die augenblickliche Hemmung neu zu beleben;
wir brauchen ihn, um darauf zu ruhen, und uns von der Anstrengung des Tanzes zu erholen: ein Moment, der
offenbar selber kein Tanz ist, und mit dem sich weiter nichts anfangen läßt, als ihn möglichst verschwinden
zu machen.«
Ich sagte, daß, so geschickt er auch die Sache seiner Paradoxe führe, er mich doch nimmermehr glauben machen
würde, daß in einem mechanischen Gliedermann mehr Anmut enthalten sein könne, als in dem Bau des menschlichen
Körpers.
Er versetzte, daß es dem Menschen schlechthin unmöglich wäre, den Gliedermann darin auch nur zu erreichen.
Nur ein Gott könne sich, auf diesem Felde, mit der Materie messen; und hier sei der Punkt, wo die beiden
Enden der ringförmigen Welt ineinander griffen.
Ich erstaunte immer mehr, und wußte nicht, was ich zu so sonderbaren Behauptungen sagen sollte.
Es scheine, versetzte er, indem er eine Prise Tabak nahm, daß ich das dritte Kapitel vom ersten Buch Moses
nicht mit Aufmerksamkeit gelesen; und wer diese erste Periode aller menschlichen Bildung nicht kennt, mit
dem könne man nicht füglich über die folgenden, um wieviel weniger über die letzte, sprechen.
Ich sagte, daß ich gar wohl wüßte, welche Unordnungen, in der natürlichen Grazie des Menschen, das
Bewußtsein anrichtet. Ein junger Mann von meiner Bekanntschaft hätte, durch eine bloße Bemerkung,
gleichsam vor meinen Augen, seine Unschuld verloren, und das Paradies derselben, trotz aller ersinnlichen
Bemühungen, nachher niemals wieder gefunden. –
»Doch, welche Folgerungen«, setzte ich hinzu,
»können Sie daraus ziehen?«
Er fragte mich, welch einen Vorfall ich meine?
»Ich badete mich«, erzählte ich,
»vor etwa drei Jahren, mit einem jungen Mann, über dessen Bildung damals
eine wunderbare Anmut verbreitet war. Er mochte ohngefähr in seinem sechszehnten Jahre stehn, und nur
ganz von fern ließen sich, von der Gunst der Frauen herbeigerufen, die ersten Spuren von Eitelkeit
erblicken. Es traf sich, daß wir grade kurz zuvor in Paris den Jüngling gesehen hatten, der sich einen
Splitter aus dem Fuße zieht; der Abguß der Statue ist bekannt und befindet sich in den meisten deutschen
Sammlungen. Ein Blick, den er in dem Augenblick, da er den Fuß auf den Schemel setzte, um ihn abzutrocknen,
in einen großen Spiegel warf, erinnerte ihn daran; er lächelte und sagte mir, welch eine Entdeckung er
gemacht habe. In der Tat hatte ich, in ebendiesem Augenblick, dieselbe gemacht; doch sei es, um die
Sicherheit der Grazie, die ihm beiwohnte, zu prüfen, sei es, um seiner Eitelkeit ein wenig heilsam
zu begegnen: ich lachte und erwiderte – er sähe wohl Geister! Er errötete, und hob den Fuß zum zweitenmal,
um es mir zu zeigen; doch der Versuch, wie sich leicht hätte voraussehn lassen, mißglückte.
Er hob verwirrt den Fuß zum dritten und vierten, er hob ihn wohl noch zehnmal: umsonst! er war außerstand,
dieselbe Bewegung wieder hervorzubringen – was sag ich? die Bewegungen, die er machte, hatten ein so
komisches Element, daß ich Mühe hatte, das Gelächter zurückzuhalten: –
Von diesem Tage, gleichsam von diesem Augenblick an, ging eine unbegreifliche Veränderung mit
dem jungen Menschen vor. Er fing an, tagelang vor dem Spiegel zu stehen; und immer ein Reiz nach dem
anderen verließ ihn. Eine unsichtbare und unbegreifliche Gewalt schien sich, wie ein eisernes Netz,
um das freie Spiel seiner Gebärden zu legen, und als ein Jahr verflossen war, war keine Spur mehr von
der Lieblichkeit in ihm zu entdecken, die die Augen der Menschen sonst, die ihn umringten, ergötzt hatte.
Noch jetzt lebt jemand, der ein Zeuge jenes sonderbaren und unglücklichen Vorfalls war, und ihn, Wort für
Wort, wie ich ihn erzählt, bestätigen könnte.« –
»Bei dieser Gelegenheit«,
sagte Herr C ... freundlich, »muß ich Ihnen eine andere Geschichte erzählen,
von der Sie leicht begreifen werden, wie sie hierher gehört.
Ich befand mich, auf meiner Reise nach Rußland, auf einem Landgut des Hrn. v. G ..., eines livländischen
Edelmanns, dessen Söhne sich eben damals stark im Fechten übten. Besonders der ältere, der eben von der
Universität zurückgekommen war, machte den Virtuosen, und bot mir, da ich eines Morgens auf seinem Zimmer
war, ein Rapier an. Wir fochten; doch es traf sich, daß ich ihm überlegen war; Leidenschaft kam dazu, ihn
zu verwirren; fast jeder Stoß, den ich führte, traf, und sein Rapier flog zuletzt in den Winkel.
Halb scherzend, halb empfindlich, sagte er, indem er das Rapier aufhob, daß er seinen Meister
gefunden habe: doch alles auf der Welt finde den seinen, und fortan wolle er mich zu dem meinigen führen.
Die Brüder lachten laut auf, und riefen: Fort! fort! In den Holzstall herab! und damit nahmen sie mich
bei der Hand und führten mich zu einem Bären, den Hr. v. G ..., ihr Vater, auf dem Hofe auferziehen ließ.
Der Bär stand, als ich erstaunt vor ihn trat, auf den Hinterfüßen, mit dem Rücken an einem Pfahl gelehnt,
an welchem er angeschlossen war, die rechte Tatze schlagfertig erhoben, und sah mir ins Auge: das war seine
Fechterpositur. Ich wußte nicht, ob ich träumte, da ich mich einem solchen Gegner gegenübersah; doch:
stoßen Sie! stoßen Sie! sagte Hr. v. G ..., und versuchen Sie, ob Sie ihm eins beibringen können! Ich fiel,
da ich mich ein wenig von meinem Erstaunen erholt hatte, mit dem Rapier auf ihn aus; der Bär machte eine
ganz kurze Bewegung mit der Tatze und parierte den Stoß. Ich versuchte ihn durch Finten zu verführen; der
Bär rührte sich nicht. Ich fiel wieder, mit einer augenblicklichen Gewandtheit, auf ihn aus, eines Menschen
Brust würde ich ohnfehlbar getroffen haben: der Bär machte eine ganz kurze Bewegung mit der Tatze und
parierte den Stoß. Jetzt war ich fast in dem Fall des jungen Hr. von G ... Der Ernst des Bären kam hinzu,
mir die Fassung zu rauben, Stöße und Finten wechselten sich, mir triefte der Schweiß: umsonst! Nicht bloß,
daß der Bär, wie der erste Fechter der Welt, alle meine Stöße parierte; auf Finten (was ihm kein Fechter
der Welt nachmacht) ging er gar nicht einmal ein: Aug in Auge, als ob er meine Seele darin lesen könnte,
stand er, die Tatze schlagfertig erhoben, und wenn meine Stöße nicht ernsthaft gemeint waren, so rührte
er sich nicht.
Glauben Sie diese Geschichte?«
»Vollkommen!« rief ich, mit freudigem Beifall;
»jedwedem Fremden, so wahrscheinlich ist sie:
um wieviel mehr Ihnen!«
»Nun, mein vortrefflicher Freund,« sagte Herr C ...,
»so sind Sie im Besitz von allem, was nötig ist, um mich
zu begreifen. Wir sehen, daß in dem Maße, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer
wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt. – Doch so, wie sich der Durchschnitt
zweier Linien, auf der einen Seite eines Punkts, nach dem Durchgang durch das Unendliche, plötzlich wieder
auf der andern Seite einfindet, oder das Bild des Hohlspiegels, nachdem es sich in das Unendliche entfernt
hat, plötzlich wieder dicht vor uns tritt: so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein
Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so, daß sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen
Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewußtsein hat, d. h.
in dem Gliedermann, oder in dem Gott.
»Mithin«, sagte ich ein wenig zerstreut,
»müßten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen,
um in den Stand der Unschuld zurückzufallen?«
»Allerdings«, antwortete er;
»das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.«
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Prosa: Das Bettelweib von Locarno (1810)
EXIF: b_0556.jpg © wispor.de
Am Fuße der Alpen, bei Locarno im oberen Italien, befand sich ein altes, einem Marchese gehöriges Schloß,
das man jetzt, wenn man vom St. Gotthard kommt, in Schutt und Trümmern liegen sieht: ein Schloß mit hohen
und weitläufigen Zimmern, in deren einem einst, auf Stroh, das man ihr unterschüttete, eine alte kranke Frau,
die sich bettelnd vor der Tür eingefunden hatte, von der Hausfrau aus Mitleiden gebettet worden war.
Der Marchese, der, bei der Rückkehr von der Jagd, zufällig in das Zimmer trat, wo er seine Büchse abzusetzen
pflegte, befahl der Frau unwillig, aus dem Winkel, in welchem sie lag, aufzustehen, und sich hinter den Ofen
zu verfügen. Die Frau, da sie sich erhob, glitschte mit der Krücke auf dem glatten Boden aus, und beschädigte
sich, auf eine gefährliche Weise, das Kreuz; dergestalt, daß sie zwar noch mit unsäglicher Mühe aufstand und
quer, wie es vorgeschrieben war, über das Zimmer ging, hinter den Ofen aber, unter Stöhnen und Ächzen,
niedersank und verschied.
Mehrere Jahre nachher, da der Marchese, durch Krieg und Mißwachs, in bedenkliche Vermögensumstände geraten war,
fand sich ein florentinischer Ritter bei ihm ein, der das Schloß, seiner schönen Lage
wegen, von ihm kaufen wollte. Der Marchese, dem viel an dem Handel gelegen war, gab seiner Frau auf, den Fremden
in dem obenerwähnten, leerstehenden Zimmer, das sehr schön und prächtig eingerichtet war, unterzubringen.
Aber wie betreten war das Ehepaar, als der Ritter mitten in der Nacht, verstört und bleich, zu ihnen herunterkam,
hoch und teuer versichernd, daß es in dem Zimmer spuke, indem etwas, das dem Blick unsichtbar gewesen, mit einem
Geräusch, als ob es auf Stroh gelegen, im Zimmerwinkel aufgestanden, mit vernehmlichen Schritten, langsam und
gebrechlich, quer über das Zimmer gegangen, und hinter dem Ofen, unter Stöhnen und Ächzen, niedergesunken sei.
Der Marchese erschrocken, er wußte selbst nicht recht warum, lachte den Ritter mit erkünstelter Heiterkeit
aus, und sagte, er wolle sogleich aufstehen, und die Nacht zu seiner Beruhigung, mit ihm in dem Zimmer zubringen.
Doch der Ritter bat um die Gefälligkeit, ihm zu erlauben, daß er auf einem Lehnstuhl, in seinem Schlafzimmer
übernachte, und als der Morgen kam, ließ er anspannen, empfahl sich und reiste ab.
Dieser Vorfall, der außerordentliches Aufsehen machte, schreckte auf eine dem Marchese höchst unangenehme Weise,
mehrere Käufer ab; dergestalt, daß, da sich unter seinem eigenen Hausgesinde, befremdend und unbegreiflich, das
Gerücht erhob, daß es in dem Zimmer, zur Mitternachtsstunde, umgehe, er, um es mit einem entscheidenden Verfahren
niederzuschlagen, beschloß, die Sache in der nächsten Nacht selbst zu untersuchen. Demnach ließ er, beim Einbruch
der Dämmerung, sein Bett in dem besagten Zimmer aufschlagen, und erharrte, ohne zu schlafen, die Mitternacht.
Aber wie erschüttert war er, als er in der Tat, mit dem Schlage der Geisterstunde, das unbegreifliche Geräusch
wahrnahm; es war, als ob ein Mensch sich von Stroh, das unter ihm knisterte, erhob, quer über das Zimmer ging,
und hinter dem Ofen, unter Geseufz und Geröchel niedersank. Die Marquise, am andern Morgen, da er herunterkam,
fragte ihn, wie die Untersuchung abgelaufen; und da er sich, mit scheuen und ungewissen Blicken, umsah, und,
nachdem er die Tür verriegelt, versicherte, daß es mit dem Spuk seine Richtigkeit habe: so erschrak sie, wie sie
in ihrem Leben nicht getan, und bat ihn, bevor er die Sache verlauten ließe, sie noch einmal, in ihrer Gesellschaft,
einer kaltblütigen Prüfung zu unterwerfen. Sie hörten aber samt einem treuen Bedienten, den sie mitgenommen hatten,
in der Tat, in der nächsten Nacht dasselbe unbegreifliche, gespensterartige Geräusch; und nur der dringende Wunsch,
das Schloß, es koste was es wolle, loszuwerden, vermochte sie, das Entsetzen, das sie ergriff, in Gegenwart ihres
Dieners zu unterdrücken, und dem Vorfall irgendeine gleichgültige und zufällige Ursache, die sich entdecken lassen
müsse, unterzuschieben. Am Abend des dritten Tages, da beide, um der Sache auf den Grund zu kommen, mit Herzklopfen
wieder die Treppe zu dem Fremdenzimmer bestiegen, fand sich zufällig der Haushund, den man von der Kette losgelassen
hatte, vor der Tür desselben ein; dergestalt, daß beide, ohne sich bestimmt zu erklären, vielleicht in der
unwillkürlichen Absicht, außer sich selbst noch etwas Drittes, Lebendiges, bei sich zu haben, den Hund mit sich in
das Zimmer nahmen.
Das Ehepaar, zwei Lichter auf dem Tisch, die Marquise unausgezogen, der Marchese Degen und
Pistolen, die er aus dem Schrank genommen, neben sich, setzen sich, gegen eilf Uhr, jeder auf sein Bett; und
während sie sich mit Gesprächen, so gut sie vermögen, zu unterhalten suchen, legt sich der Hund, Kopf und Beine
zusammengekauert, in der Mitte des Zimmers nieder und schläft ein. Drauf, in dem Augenblick der Mitternacht, läßt
sich das entsetzliche Geräusch wieder hören; jemand, den kein Mensch mit Augen sehen kann, hebt sich, auf Krücken,
im Zimmerwinkel empor; man hört das Stroh, das unter ihm rauscht; und mit dem ersten Schritt: tapp! tapp! erwacht
der Hund, hebt sich plötzlich, die Ohren spitzend, vom Boden empor, und knurrend und bellend, grad als ob ein Mensch
auf ihn eingeschritten käme, rückwärts gegen den Ofen weicht er aus. Bei diesem Anblick stürzt die Marquise mit
sträubenden Haaren, aus dem Zimmer; und während der Marquis, der den Degen ergriffen: wer da? ruft, und da ihm
niemand antwortet, gleich einem Rasenden, nach allen Richtungen die Luft durchhaut läßt sie anspannen, entschlossen,
augenblicklich, nach der Stadt abzufahren. Aber ehe sie noch einige Sachen zusammengepackt und aus dem Tore
herausgerasselt, sieht sie schon das Schloß ringsum in Flammen aufgehen. Der Marchese, von Entsetzen überreizt,
hatte eine Kerze genommen, und dasselbe, überall mit Holz getäfelt wie es war, an allen vier Ecken, müde seines
Lebens, angesteckt. Vergebens schickte sie Leute hinein, den Unglücklichen zu retten; er war auf die elendiglichste
Weise bereits umgekommen, und noch jetzt liegen, von den Landleuten zusammengetragen, seine weißen Gebeine in dem
Winkel des Zimmers, von welchem er das Bettelweib von Locarno hatte aufstehen heißen.
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b_0556k.jpg / © wispor.de
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EXIF-Infos: | ™Canon EOS 400D / Objektiv: 18-55mm |
Bild: | b_0556.jpg | | |
Originalfoto: | 3.888 x 2.592 | Zeit: | 13. Feb. 2008 / 13:57 |
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